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Freitag, 30. September 2016

BON IVER / 22, A Million

Manche Ereignisse lassen sich erahnen! Es war zu erwarten, dass Justin Vernon - spätestens nach der eindrucksvollen Zusammenarbeit mit Elektronik-Heulsuse James Blake und der Kooperation mit Kanye West - sein Projekt BON IVER auf neue Pfade führen würde. Nicht zu erwarten war allerdings, mit welcher Vehemenz er seinen höchst emotionalen Singer/Songwriter-Folk elektrifizieren würde.


Aber betrachtet man sein Gesamtwerk, ist es dann doch nicht verwunderlich, wie sich der schier stromlose Folk vom 2008 erschienenen "For Emma, Forever Ago" (2008) über das dezent mit elektronischen Effekten arbeitende Erfolgsalbum "Bon Iver, Bon Iver" von 2011 zum aktuellen Album "22, A Million" fließend verwandelt hat.

"22, A Million" ist im Ansatz radikal zerstörerisch! Fast von Anfang an hat Vernon mit seiner Stimme allerhand elektronischen Schindluder getrieben, aber nun treibt er es hemmungslos auf die Spitze. Autotune ist allgegenwärtig und kein Ton klingt mehr wie etwas, was auf diesem Planeten in der freien Natur vorkommt. Folk-Puristen werden sich vor Schmerzen krümmen, obwohl sie zähneknirschend zugeben müssen, dass trotz der elektronischen Materialschlacht sich "22, A Million"durchaus am Lagerfeuer genießen lässt oder sich dafür eigenen würde, die aus den 70er Jahren stammende Naturburschen-Serie "Der Mann in den Bergen" (Originaltitel: The Life and Times of Grizzly Adams) mit Hintergrundmusik zu bestücken.

Aber wen wundert es, denn schließlich kommt Vernon aus dem amerikanischen Bundesstaat Wisconsin, der zu knapp 46% mit Wald- und zu 17% mit Wasserflächen bedeckt ist und die Verbundenheit zu seiner Heimatstadt Eau Claire (Urspung: Eaux Claires = Klare Wasser) ist kein Geheimnis, da er seine Heimatverbundenheit auch gerne in seine Texte transportiert.



Werfen wir das elektrische Lagerfeuer mal an und stürzen uns in das Wunderland des Herrn Vernon voller Cybermountains, virtueller Wasserfälle und transzendenter Horizonte: Der sanfte Einstieg mit "22 (OVER S∞∞N)" beginnt mit einem im Loop gefangenen Ton, einer gepitchte Micky-Mouse-Stimme und dann setzt der bekannte filigrane Gesang des Meisters ein. Zarte Gitarrentupfer bestellen den Acker weiter und der gefangene Ton wird mit Störungen attakiert. Streicher und Saxophon düngen das Feld mit Melancholie. Schöner kann man kaum Willkommen geheißen werden.



"10 d E A T h b R E a s T ⚄ ⚄": Ein rumpelndes Gewitter zieht am Himmel auf. Elektrizität entlädt sich. Mensch und Tier sucht Schutz, aber die Stimme des Herrn legt sich wie ein Schutzschild über das drohende Unwetter und macht es zu einem Ereignis statt zu einer Gefahr.

Die Mensch-Maschine singt und lebt. "715 - CR∑∑KS" ist Daft Punk in der Super Slow Motion. Blakes Einflüsse sind auch nicht von der Hand oder besser von der Stimmverzerrung zu weisen.



Pianoklänge führen zu "33 "GOD"". Mickey Mouse ist auch wieder mit dabei und im Hintergrund werkelt der Maschinenpark ganz verhalten. Dann, im Duell der verfremdeten Stimmen, steigt ein mächtiger Beat hervor, reißt alles an sich und verschwindet wieder.

Stromausfall? Nicht ganz, aber "29 #Strafford APTS" schraubt die elektronischen Spielereien, ausgenommen bei der Stimme, ziemlich zurück und gibt sich sehr sanft, mit einer akustischen Gitarre beseelt, wie eine leichte Morgenprise, die über das weite Land weht. Ergreifend schön.

Ebenso zärtlich und gemächlich kristallisiert sich "666 ʇ" aus einem minimalistischen Kling-Klong-Rhythmus heraus. Schlagzeuggewitter grollen, dezente maschinell klingende Geräusche und kleine Jazz-Eskapaden werden wie Tupfer eingestreut. Dann positioniert sich der Mond ("21 M◊◊N WATER) mächtig dramatisch am Firmament und spiegelt sich im stillen Gewässer. Ein einsamer Saxofonspieler sitzt am Ufer und heult den Satellit der Erde an.



"8 (circle)": Die Musik flimmert in der Luft wie bei einem Orchester, das sich gerade einspielt, ein Beat im Herzschlagtakt gesellt sich dazu und natürlich Vernons Gesang. Orchestraler Folk mit einem Arrangement, das man sich auch in jeder Philharmonie dieser Welt vorstellen kann.

"____45_____": Erstmals verlässt Veron den für ihn typischen harmonischen Gesangsstil etwas und singt mit dezenter Dirtyness in der Stimme, zumindest in einer Variante der zig übereinandergestapelten Stimmen. Sind das Keys oder gar das bei "22, A Million" oft zum Einsatz kommende Saxofon, welches durch den elektronischen Schredder gejagt wurde? Oder beides?

Der Schlusspunkt "00000 Million" könnte locker auf dem Vorgänger-Album "Bon Iver, Bon Iver" versteckt werden, denn die Melodie tritt im Gegesatz zu den anderen Songs des Albums stark hervor und der Hymnen-Faktor früherer Tage ist auch deutlicher zu hören.

Und was hat es eigentlich mit diesen hieroglyphenartigen Songtiteln auf sich? Vernon hat eine Vorliebe für Zahlen und Symbolik. Wie er bei einer Pressekonferenz in seinem Heimatort verlauten lies, hat jeder Songtitel auch wirklich eine Bedeutung bzw. Symbolik. Einige Hilfestellungen: 22 ist Vernons Lieblingszahl, 715 die Vorwahl von Eau Claire und 45 ist als Wort "forty-five"zu betrachten. Decodierungsvorschläge werden gerne per Email entgegengenommen ;-)

Tracklist:
01 22 (OVER S∞∞N)
02 10 d E A T h b R E a s T ⚄ ⚄
03 715 - CR∑∑KS
04 33 "GOD"
05 29 #Strafford APTS
06 666 ʇ
07 21 M◊◊N WATER
08 8 (circle)
09 ____45_____
10 00000 Million

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