HERZPLATTEN - REMEBER THAT OLD SHIT
Kategorie: DiskursPop, IndiePostPop
Veröffentlichung: 15.04.2011
"DMD KIU LIDT" ist eine Ode an die Traurigkeit, auf dem Ja, Panik ihr bilinguales Textkonzept ("Sorry for my bad English - but my German is even worse") perfektionieren, nicht zuletzt, um mit der internationalen Pop- und Rockgeschichte in einen Diskurs zu treten. Sichtbar schon in einigen Songtiteln ("Nevermind", "Time Is On My Side", "Suicide") wird man in den politischen und inhaltlich weit "Links" positionierten, gerne aber auch kryptischen Texten mit Referenzen aus Pop und Kultur schonungslos überschüttet. Kaum ein Satz ist Füllmaterial, sondern fast immer dazu formuliert, um die Denkmaschine des Hörers anzustoßen.
Bei der schunkelnden Untergangshymne "This Ship Ought To Sink" proklamiert Sänger Andreas Spechtl am Piano und zu temporär weinenden Gitarren den Untergang der Menschheit, um die Welt zu retten. Im IndiePopSong "Trouble", der einen freundlichen Mitsing-Refrain aufweist und an Phantom/Ghost erinnert, finden sich Querverweise zum deutschen Philosophen Walter Benjamin, der sich 1940 in Portbou ("Ich weiss noch, als er sagte, kurz vor Portbou: Sorry for my bad English, but my German is even worse") auf der Flucht vor den Nazis das Leben nahm. Bei "The Horror" ist Spechtl in Sorge! Er sucht Erleuchtung und Trost bei Berthold und Nico und zitiert die letzten Worte von Marlon Brando in Apocalypse Now. 2010, ein Jahr vor JA, PANIK, hatte die britische Band Foals ebenfalls mit dem Song "Spanish Sahara" den Horror beschworen.
Streicher, Streicher und noch mal Streicher be "Barbarie". Spechtl weint einen ganzen Ozean und scheint, wenn man auf das Jahr 2016 zurückblickt, ins Schwarze zu treffen. Ganz schlüssig bin ich mir noch immer nicht, worauf die im Text erwähnte "Inzuchtdynastie" anspielt, aber wahrscheinlich auf die Sozialisation und Erziehung in einer spezifischen Umgebung, sei es Kapitalismus oder eine religiös geprägte Gesellschaftsform, die immer wieder aufs Neue Gleiches hervorbringt und sich so ständig weitervererbt. Oder einfach Mama und Papa sind schuld ;-)
"Run From The Ones That Say I Love You" ist ein Lied mit Hand-Claps, einen fetten Bass und sanften Klavierklängen über die Liebe ... und Drogen, in dem mutmaßlich Johnny Cash ("San Quentin") zitiert wird und Velvet Underground grüßen lässt. Beim minimalistischen Rocksong "Nevermind" gilt jede Strophe einem Bandmitglied und bezieht sich nicht nur stilistisch auf den Roman "Ulysses" von James Joyce, der in 18 Episoden einen Tag im Leben der Protagonisten Leopold Bloom beschreibt.
Mit elektronischen Beats und ziemlich funky fällt "Surrender" etwas aus dem musikalischen Rahmen. Spechtl groovt, soweit ein Österreicher grooven kann, und singt über jemanden, der den Widerstand aufgegeben hat. Keine versteckten Zitate, sondern eine explizite Ansprache an Menschen, die kapituliert haben - wie Tocotronic bereits 2007 ;-)
"Bittersweet" ist eine bittersüße Manifestation der Traurigkeit. Dramatisch, pathetisch mit Noise-Attacken. Nicht das Ende der Welt, aber das Ende einer Liebe. Das Spiel geht weiter.
"Grey & Old" ist das Lied mit den meisten Wumms oder besser das einzige mit Wumms - und completely english, dafür aber "unverschlüsselt". Spechtl sehnt sich ganz schrecklich nach dem Ende, dem Tag, an dem das Hamsterrad bezwungen scheint. Wunderbar naiv und lässig rumpelt "Time Is On My Side". Das bad English und der Wiener Dialekt verschmelzen wunderbar. Klingt wie ein Pete Doherty-Song mit Falco als Duettpartner und birgt die wunderschöne Textzeile: "Sich dem Absurden unterwerfen heißt den Wahnsinn erst begreifen.", die Herrn Camus sicher gefallen hätte.
Der Herr Spechtl, der erste österreichische Rockstar nach Falco, der irgendwie defekt und ramponiert ist und trotzdem als Held bzw. Anti-Held taugt, liest nicht nur viel, sondern schaut auch gerne Filmklassiker, in denen es um ramponierte Personen geht. Norma Desmond, die weibliche Hauptfigur in Billy Wilders Film "Sunset Boulevard" wird mit Mr. Jones konfrontiert, bei dem es sich zweifelsfrei um den dünnen frustrierten Mann aus Bob Dylans Feder ("Ballad of a thin Man") handelt, wie der adaptierte Satz "Something is happening but you don’t know what it is, do you, Mr. Jones?" beweist. Die musikalische Verpackung ist für die Thematik des Songs unverschämt gutgelaunt.
Das 41 Sekunden kurze Intermezzo "Modern Life Is War" erinnert mich an das Blur-Album "Modern Life Is Rubbish" von 1993, bei dem Damon Albarn und seine Jungs sich musikalisch rückwärtswenden und alten britischen Pop-Heroen wie The Kinks oder The Jam Ehre erweisen. Liegt die bessere Zukunft also in der Vergangenheit? Kann man noch umkehren oder weglaufen oder ist es schon zu spät?
Wer sich aus Leidenschaft selbst das Leben nimmt, muss das Leben lieben, verzweifelt aber an der Bürokratie des Alltagslebens. "Suicide" wirbt nicht für den Freitod, wie man oberflächlich betrachtet meinen könnte, sondern viel mehr für das Ankämpfen gegen vorgegebene Strukturen. Dies, und die damit verbundene Traurigkeit, sind die allgegenwärtigen zentralen Themen auf "DMD KIU LIDT". Man könnte es auch schön bilingual formulieren als "Think positive und biete die Stirn"!
"The Evening Sun" ist eine melancholische Klavierballade mit Western-Saloon-Flair, die sich laut Spechtl auf die Installation "Room with my soul left out, room that does not care" des amerikanischen Künstlers Bruce Nauman bezieht. Es geht um Einsamkeit und die absolute Auswegslosigkeit als letzte wirkliche Zuflucht, weil man dort keine Entscheidungen mehr treffen muss bzw. kann.
"DMD KIU LIDT" ist der Schlüsselsong zum Album. Mehr als 14 Minuten pralles Leben, Wut, Leidenschaft, Romantik & Rebellion gegen das Establishment. Musikalisch ein begnadeter Bastard aus "Desolation Road" und "Jeanny".
Nach diesen Erläuterungen zu den einzelnen Songs sollte klar sein, dass dieses Album ohne Hirnschmalz und Wissen bzw. dem Drang zur Wissensbeschaffung nur schwer genießbar ist. Wer sich keine Zeit nimmt, weil er ständig "On the Run" ist, wird kläglich daran scheitern, sich "DMD KIU LIDT" zu erschließen, denn das Meisterwerk der Ja, Paniker besteht aus Fragmenten, die anfangs nur vereinzelt greifen und die, ja man muss es so hart ausdrücken, erst nach nicht immer einfacher (Zu-)Hörarbeit das große Ganze erkennen lassen. Wahrscheinlich kann man, selbst wenn man das Album täglich hören würde, noch immer neue Schlüsse daraus ziehen.
Also los, wer noch nicht hat! 15 Songs gilt es zu erkunden. Songs voller Melancholie, voller Wut, voller Widerstand, voller Angst, voller Kritik, voller Liebe, voller Slogans und Parolen, die man sich auf ein T-Shirt drucken möchte, um sie der ganzen Welt zu präsentieren:
"I expectet the worst and that's what i got" (aus "Barbarie")
"Save the Planet Kill Yourself": (Zitat der Church of Euthanasia rezitiert bei "This Ship Ought to Sink")
"Give me kicks till I surrender" (aus "Surrender")
"Sie haben uns mehr als die Straße gestohlen, und das sagt da jemand, der on the road klebt" (aus "DMD KIU LIDT")
P.S:
Ähnlich wie bei den Urvätern der politischen Rockmusik, den Ton Steine Scherben, sind Ja, Panik eine Band, deren Musik ich mir fast ausschließlich auf Vinyl anhöre. Warum lässt sich schwer erklären, vielleicht liegt es daran, dass es sich auf diesem Medium einfach authentischer anhört, sicher aber auch weil beim in einem spiegelnden silbernen Cover verpackten "DMD KIU LIDT" es mich immer wieder drängt, die Texte zu lesen. Aber Achtung: Die Sprachen sind vertauscht, also deutsch gesungene Passagen ins Englische übersetzt und umgekehrt.
Tracklist:
01 This Ship Ought to Sink
02 Trouble
03 The Horror
04 Barbarie
05 Run From the Ones That Say I Love You
06 Nevermind
07 Surrender
08 Bittersweet
09 Grey & Old
10 Time is on My Side
11 Mr. Jones & Norma Desmond
12 Modern Life is War
13 Suicide
14 The Evening Sun
15 DMD KIU LIDT
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