Date: 24.01.2017
Es ist 3:40, der Wecker klingelt. Wahrlich keine Freude, sich um diese Uhrzeit aus dem warmen Bett zu schälen, aber schon beim Zähneputzen, also knapp 2 Minuten später, fällt mir ein, dass dieser Tag zumindest einen fürstlichen Abschluss finden dürfte, denn die Band, die mir im vergangenen Jahr das schönste Album schenkte, BIG THIEF aus Brooklyn sind zu Gast im Blue Shell in Köln.
Kurz nach 4 Uhr sitze ich im arschkalten Auto auf dem Weg zur Arbeit. Richtig, ich höre kein Radio, sondern "Masterpiece", das Debüt-Meisterwerk der Band, die ich heute Abend endlich auch live erleben darf und welches in der nächtlichen Dunkelheit auf freier Straße auch wunderbar seine Wirkung entfaltet.
4:40 der Rechner ist hochgefahren, alle Programme sind geöffnet, auch iTunes und natürlich gönne ich mir eine weitere Dosis Big Thief, während ich das erste Briefing von der bereits seit 2 Stunden arbeitenden Grafiker-Kollegin erhalte. Das schöne an meinem Beruf ist, dass ich immer und überall beim Arbeiten Musik hören kann, ehrlich gesagt, kann ich glaube ich gar nicht ohne Musik arbeiten. Es hat ein bisschen gedauert, bis ich alle mit mir arbeitenden Kollegen davon überzeugen konnte, dass wir am besten mit meiner Playlist arbeiten, aber die Widerstände sind gebrochen, auch wenn ich dafür einige, zugegebenermaßen zum Arbeiten anstrengende Songs aus der Playlist eliminieren musste.
Gegen Mittag ist die Arbeit vollbracht und es geht nach Hause. Der Plan ist, schnell etwas zu Mittag essen und dann etwas auf's Ohr legen, um Kräfte zu tanken, aber leider macht mir der Alltag einen Strich durch die Rechnung und der kleine Mittags-Nap muss ausfallen. Richtig, bei der Alltagsbewältigung dient als Soundtrack Musik von Miss Lenker, allerdings nicht mit Band, sondern ich widme mich, in der wagen Hoffnung am Abend auch davon etwas zu hören, dem Prä-Big Thief-Album "Hours Were the Birds", bei dem Adrianne auf den Spuren klassischer Singer/Songwriter aus der Folkecke wandelt und bereits andeutet, was für eine begnadete Songwriterin in ihr steckt.
Time goes by und ich starte meine Konzertvorbereitung. Da mein holdes Weib unerwarteterweise unpässlich und mein sonst so treuer Konzertbegleiter C. in den Sack gehauen hat, muss ich den Ritt aus Kölns nördlichstem Stadtteil zum Barbarossaplatz alleine bewältigen. Da ich mir das ein oder andere Bierchen nach diesem Tag verdient habe, beschließe ich, das Auto stehen zu lassen und mit der KVB ans Ziel der Wünsche zu gelangen. Ich hasse Bahnfahren - zumindest in Köln.
Gegen 20 Uhr bin ich am Barbarossaplatz, ausnahmsweise ohne Belästigung irgendwelcher pubertierender Vollpfosten und ohne Verspätung. Die unverwüstliche V., die man auch getrost als die Verlässliche bezeichnen könnte, wartet bereits auf mich und nach und nach trudeln auch die anderen Mitstreiter Bodo, Frau Hase mit einer netten Freundin, die es hoffentlich verkraftet hat, dass ich keine Haare habe, Yogameisterin Nina und zum Schluss, als wir bereits längst im Warmen sind, auch der Herr Professor.
Man muss sich in letzter Zeit ja oft für Köln schämen, Stichwort Silvesternacht, aber heute Abend schäme ich mich vor allem dafür, dass die sogenannte Metropole am Rhein es wieder mal nicht geschafft hat, einer Band, die sich mit ihrem Debüt in zahlreichen Jahresbestenlisten 2016 befindet, eine ausverkaufte Location zu bescheren. Zu jeder bekackten Karnevalssitzung, ganz egal ob an einem normalen Arbeitstag oder nicht, rafft sich der somnolente Kölner mit Pappnase auf, aber wenn es wirklich etwas Besonderes zu sehen gibt, sucht man die rheinische Frohnatur vergebens.
Ja, das Blue Shell ist nicht ausverkauft, aber als es um 21:45 endlich losgeht, haben sich doch zahlreiche, wenn auch nicht genug, Kulturkenner eingefunden. Die Band beginnt mit einem Solostück von Adrianne, das sich wohl "Cut my Hair" nennt und zwei weiteren mir noch unbekannten Songs, die ich dank der am Ende in meinen Besitz wandernden Setlist als "Those Girls" und "GWS" kundgeben kann. Wie von Big Thief gewohnt, pendeln die Songs virtuos zwischen leisen, von Adriannes hingebungsvoller Stimme getragenen und lauteren Passagen. Adrianne hat beim Singen den Blick gesenkt und die Augen geschlossen, die Verletzlichkeit, die ihre auf der Rasierklinge tänzelnden Stimme eh schon innehat, spiegelt sich in ihrer Mimik und Gestik wieder. Der erste Eindruck ist, dass mir Adrianne vorkommt wie ein scheues Reh, welches urplötzlich in einem Scheinwerferkegel gefangen ist. Aber der erste Eindruck trügt, denn das Reh hat die Kraft das gleißende Licht zu durchbrechen und dem Publikum ins Auge zu sehen, mehrfach fordert sie es sogar auf, doch näherzukommen.
Lied Nummer drei, ein echter Hochkaräter des Albums, ist "Real Love". Der Song, der so sanft beginnt, dann so gewaltig anwächst und in einem kleinen Gitarren-Inferno mündet, zündet live nach den beiden Anfangssongs die nächste Stufe. Leider nervt die Lautsprecherbox am rechten Bühnenrand mit konstantem Brummen, weswegen die vielleicht etwas zu lange ausgedehnte Stille vor dem ungewöhnlichen Gitarrenpart dem Stück etwas den Zauber nimmt. Liebes Blue Shell-Team bitte nachbessern.
Es folgen die beiden Hits "Vegas" und "Masterpiece". Über die Güteklasse dieser beiden Songs wurden genug Worte geschrieben und wer sie nicht kennt, sollte dies schleunigst nachholen:
Der anschließende Song "Black Diamond" ist wieder ein mir unbekannter. Ohne Vorkenntnis kann ich ihn inhaltlich leider nicht entschlüsseln, aber er scheint in der Grundstimmung eher von etwas Tragischem oder Unschönem zu handeln, denn Adrianne bricht den Song mehr oder weniger mit der Begründung ab, dass sie sich für dieses Stück heute nicht in der richtigen Stimmung befindet. Ich weiß nicht, wie es den anderen im Publikum geht, aber ich finde es großartig, zeigt es doch, wie sehr diese Band und speziell deren Frontfrau, die Emotionalität ihrer Musik am Herzen liegt, einen Umstand, den man heute Abend bei jeder Note spüren kann.
Nach dem kalten "Black Diamond" spielt die Band den wohl emotionalsten und wärmsten Songs ihres Debütalbums. Bei "Paul" stellen sich bei mir bei den ersten gesungenen Zeilen jedenfalls noch immer die letzten vorhandenen Körperhaare auf und auch in der heute dargebotenen live Version ist dies natürlich der Fall. Und wie Buck Meek seiner Gitarre die Tränen ausdrückt, ist wahrhaft anrührend. Das ist nicht immer alles absolut perfekt, was Big Thief auf der Bühne abliefern, aber es ist voller Hingabe und Leidenschaft und deswegen ist es gut.
Ein paar Worte zum, im Popbusiness auch nicht gerade alltäglichen Erscheinungsbild der Band. Wer hier irgendwelchen Starappeal oder Statements duch Kleidung im üblichen Sinne sucht, ist bei Big Thief auf verlorenem Posten. Diese Band ist Anti-Pop! Jeder Marketing-Fuzzi, der sich der Band annehmen müsste, würde sich vor Verzweiflung die Haare raufen wegen der konsequent antimodischen Kleidung Adriannes (wo bekommt man heute noch solche Hosen?), der Foxterrier-Zöpfchen-Frisur von Bassist Max Oleartchik, die mich sehr an Alexander Meier von Eintracht Frankfurt erinnert oder dem urgemütlichen Sweat-Shirt, welches Schlagzeuger James Krivchenia während des Auftrittes trägt. Und dann hat sich diese Lenker auch noch ihre schönen langen Haare kurzgeschoren! Das grenzt ja an Marketingverweigerung! Das ist Marketingverweigerung! Der Einzige, der in Sachen Klamotten rocktechnisch vermarktbarer wäre, ist Gitarrist Buck Meek. Aber muss der sich beim Gitarrespielen so die Beine verbiegen? Das grenzt ja an Autismus! Ich sehe das natürlich völlig anders als der fingierte Marketing-Fuzzi, ich finde den Auftritt herzerfrischend, absolut ungekünstelt und höchst gefühlvoll.
Zurück zum Wichtigen. "Parallels" ist an diesem Abend die Nummer, die bei mir im Vergleich zur Platte am meisten wächst. Der Song fließt und in der ständigen Wiederholung des Refrains ertappe ich mich beim Lautstarken mitsingen: "I see all | parallels | I see all | parallels | I see all | parallels | I see all | parallels | I see all | parallels | I see all | parallels | I see all | parallels | I see all | parallels | ..."
Nächste Nummer wieder ein unbekanntes Stück, welche sich laut besagter Setlist, die jetzt einen Ehrenplatz an meiner Konzertkarten-Magnetwand hat, "Magic D" nennt. Prima Nummer, die hoffentlich auf dem zweiten Streich der Band zu hören sein wird.
Nun gehört die Bühne ganz Gitarrist Buck Meek, der ein Acapella-Stück singt, welches auf der Setlist nur als "Buck" vermerkt ist. Interessante Stimme hat der Mann mit den Gummibeinen, der am Ende des Stückes von Schlagzeuger James aus seiner Hypnose, auch er hat vorwiegend die Augen geschlossen, geholt wird, weil dieser sein etwas verschobenes Instrumentarium etwas zu lautstark zurechtrückt.
Es folgen mit "Mythological Beauty" und "Terminal" zwei weitere exzellente neue Stücke, ehe mit "Velvet Ring" wieder ein bekannter Song gespielt wird. Bei so vielen unbekannten Stücken darf man vielleicht wirklich schon 2017 mit einem neuen Album rechnen? Biiiiiittttte!
Der letzte Song, bevor die Band die Bühne verlassen will, ist "Humans". Der kurzzeitig ausgefallene Bass ist wieder voll einsetzbar, was für diesen Song auch zwingend notwendig ist. Schlagzeuger James freut sich über die Uptempo-Nummer und vollführt beim Bearbeiten der Felle Zungenüberschläge, wie man sie in dieser Stadt mutmaßlich noch nicht gesehen hat. Auch dieses Stück wächst live noch mal deutlich!
Bisher wurde während des Konzertes in unserer Gruppe nur wenig gesprochen, zu fesselnd war das, was man da auf der Bühne sah, aber jetzt wage ich einen Seitenblick nach links und rechts und bin mir sicher, dass hier alle voll auf ihre Kosten gekommen sind.
Wie angekündigt soll nun Schluss sein, aber der voreilig die Bühne verlassende Bassist muss schnurstracks wieder auf die Bühne, denn der Rest der Band will sich nicht lange bitten lassen und noch zwei Songs als Zugabe nachschieben. Nach "Randy" und "Animals", ich bin mir ehrlich gesagt nicht mehr ganz sicher, ob es diese beiden Songs waren, denn trotz der hohen Serotoninausschüttung hat sich die Müdigkeit meines alten Körpers bewältigt, ist gegen 23:10 der schon jetzt legendäre Konzertabend zu Ende.
Leider muss ich jetzt noch mal meine Sprintschuhe schnüren, denn die Bahn und mein Bett rufen, ich muss ja morgen früh wieder zeitig aus den Federn. So bleiben essenzielle Fragen leider ungeklärt? Wann kommt das neue Album? Wie ist der Name des Wellensittichs auf dem Cover? Ist das Adrianne in jungen Jahren und wer ist der amerikanische Michel aus Löneberga? Warum sind die Haare ab? Ist Buck ein Verwandter von Elastoman? Lässt es sich unter Trump in Amerika noch leben? Gibt es die wahre Liebe?
TschÖ ... und ratet mal, welches Vinyl sich während des Schreibens auf meinen Plattenspieler rotierte ;-)
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