Date: 19.04.2017
Ich alter, Krach gewohnter Haudegen, fand es einfach nur ziemlich großartig. Darin lässt sich doch ziemlich gut erkennen, wie subjektiv so ein Konzertbesuch ist und dies sogar, wenn er unter den gleichen Rahmenbedingungen stattfindet.
Die Rahmenbedingungen waren insofern identisch, als dass wir den ganzen Tag in der bezaubernden City von Amsterdam zu Fuß die verschiedensten Sehenswürdigkeiten abgeklappert hatten, nur kurz im Appartement Luft holten und uns dann direkt - wieder zu Fuß - auf den Weg in den Kultclub, das Paradiso, aufmachten. Die Füße waren also platt und der körperliche Fitnesszustand in etwa so, als hätte man die ganze Nacht zu Songs von Rage against the Machine getanzt, als wir in der Weteringschans pünktlich um 19:30 zum Einlass eintrafen. Erstaunlicherweise hörte man schon Gitarrenklänge aus dem Innenraum, als wir noch an der Garderobe standen, weswegen nicht viel Zeit blieb, um den Vorraum genauer zu erkunden.
Betritt man die heiligen Rockhallen, hier hat ja nun wirklich so ziemlich jede Band gespielt, die sich in die Geschichtsbücher des Rock'n'Roll eingetragen haben, ist man doch ziemlich beeindruckt. Der Innenraum der im neuromanischen Stil erbauten ehemaligen Kirche, in deren Chorraum die Bühne platziert ist, gleicht durch die Oberränge auf zwei Etagen einem römischen Amphitheater. Ein bisschen müssen sich die Künstler, die hier auftreten, wie Gladiatoren fühlen.
Der Laden beginnt sich gerade erst zu füllen, aber drei ziemlich sexy aussehende Ladies und ein Herr am Schlagzeug, THE VAN T's, sind bereits auf der Bühne zu Werke. Das Quartett stammt aus Glasgow, also aus der Heimat von TJMC, überzeugt aber mehr in visueller als akustischer Hinsicht. Die Vorbilder der Band sind ganz sicher die beiden Herren, die wenig später auf der Bühne erscheinen, aber es hapert erstens am Gesang der beiden Schwestern Chloe und Hannah Van Thompson und vor allem in Punkto Songwriting liegt die Band meilenweit hinter ihren Vorbildern. Zwei bis drei Songs sind aber durchaus gefällig, besonders "Blood Orange" kann sich live durchaus hören lassen. Kurz nach 20 Uhr ist Schluss für die Vorband, jetzt heißt es warten auf die Helden.
Dass die Helden, eher meine und nicht die meiner Frau sind, dürfte der ein oder andere schon erahnen. Wenn ich meine Liebe nach der musikalischen Schnittmenge ausgesucht hätte, was ein guter Freund, dessen Namen ich hier explizit nicht nenne, unumstößlich findet, wäre ich sicher nicht mit meinem holden Weib zusammen. Ich halte es also eher mit der Regel "Gegensätze ziehen sich an" und bin zutiefst dankbar, dass sie sich trotzdem mit mir zu diesem Konzert begeben hat, bei dem naturgemäß ein ziemlicher Überschuss an männlichen, nicht mehr ganz taufrischen Gästen herrscht.
Um 20:45 wabert eine Überdosis Nebel über die Bühne und The Jesus and Mary Chain betreten in fünköpfiger Besetzung die Bühne. Im blauen Licht und den Nebelschwaden lässt sich nur wenig erkennen, als es mit dem Opener "Amputation" vom grandiosen neuen Album "Damage and Joy" los geht. Der Sound sitzt perfekt, die Lightshow mit viel Gegenlicht ist spektakulär und ich frage mich, wie früh man im Paradiso sein muss, um den Logenplatz in der Kanzel auf der ersten Etage gegenüber dem Chorraum zu erhalten.
Auf Facebook hatte ich unter den euphorischen Kommentaren zu den bereits absolvierten Konzerten in England gelesen, dass die Gebrüder Jim und William auch mit alten Klassikern nicht sparen würden und so bin ich nicht verwundert, sondern hoch erfreut, als mit "April Skies" gleich ein Song dieser Kategorie dargeboten wird. Jim bewegt sich im Strobolicht zeitlupenhaft und hält immer wieder in klassischen Rockposen inne - gelernt ist gelernt ;-).
Nach "Head on" folgt "Far Gone and Out" und Jim nuschelt zum ersten Mal irgendetwas ins Publikum. Ich kann kein Wort verstehen, ist aber auch egal, ich geniese einen meiner Lieblingssongs, ein Paradebeispiel dafür, was das Besondere an TJAMC-Songs ist: Viel Noise um eigentlich zuckersüße Melodien, die man oft erst erkennt und zu schätzen weiß, wenn man das Stück mehrfach gehört hat. Mache mir ein wenig Sorgen um meine Frau, die so gut wie keinen Song kennt und wahrscheinlich nur eine Gitarrenwand - durch ihre neuen Ohrschützer - wahrnimmt.
Nach zwei Songs vom meiner Ansicht nach nicht so starken 89'er Album Automatic kommen wieder zwei Stücke vom aktuellen Album. "Always Sad", bei der eine mir unbekannte Blondine die weiblichen Vocals übernimmt, und "Mood Rider" fallen in dieser Klassikerparade überhaupt nicht aus dem Rahmen. Es ist schon erstaunlich, dass der Gig einen homogen Flow aufweist, obwohl zwischen den gespielten Stücken ganze Jahrzehnte liegen.
Nach zwei weiteren alten Stücken ("Teenage Lust" und "Cherry Came Too") ist es endlich soweit, der erste Song vom meisterlichen Debütalbum "Psychocandy" aus dem Jahre 1985 wird gespielt: "The Hardest Walk". Herrlich wie es rumpelt und scheppert und in zahlreichen Köpfen Erinnerungen an vergangene Sturm und Drang-Zeiten wach werden. Danach wieder postwendend zurück in die Gegenwart mit dem treibenden "All Things Pass" und wieder zurück mit "Some Candy Talking". Die reinste Gehirnwäsche, die man hier verpasst bekommt, nur echt große Kacke, dass man auch in diesem Tempel der Rockmusik nicht mehr rauchen darf. Was waren das noch für Zeiten, als der Qualm im Publikum sich mit der Nebelmaschine auf der Bühne ein Duell lieferte.
Mittlerweile spielt die Band knapp 50 Minuten und noch immer hat keinerlei Kontakt zwischen den beiden Stinkstiefel-Brüdern stattgefunden. Der Fokus liegt ganz klar auf Jim und nur ganz selten kann man bei den langsameren Nummern, die etwas weniger in Nebel gehüllt werden, William an seiner Gitarre erkennen - aber auch nur, weil er noch immer eine füllige, wenn auch mittlerweile graue Haarpracht trägt ;-).
Nach "Halfway to Crazy", folgt mit "Reverence" vom 92'er Album Honeys Dead das angekündigte letzte Stück. Sehr fett, sehr überzeugent, auch mit 25 Jahren auf dem Buckel eine herausragende Nummer aus dem Repertoire der Schotten. Es folgt eine Schrecksekunde, ob es das wirklich schon war, weil Roadies auf die Bühne kommen und an die Instrumente gehen, aber dann wird erkennbar, dass nur nachjustiert wird und TJAMC noch nachlegen werden.
Die Zugabe beginnt mit der Ballade "Nine Million Rainy Days", ehe Psychocandy mit einem vier Songs starken Block gewürdigt wird. Die lautesten Freudenrufe erntet dabei "Just Like Honey" und bei "You Trip me up" und "The Living End" beginnt die alte Herrenschaft in der vorderen Reihe doch noch hemmunglos zu poggen. Ich würde gerne, aber ich kann kaum noch stehen nach diesem zweiten Tag in Amsterdam, an dem ich mehr Schritte zurückgelegt habe als in den letzten 3 Wochen zusammen ;-).
Nach "Taste of Cindy" kündigt Jim an, dass er das Konzert mit einem Song vom aktuellen Album beenden möchte und ich hoffe auf "Simian Split", dessen Hookline ich seit Tagen vor mich hersumme und ich schon mit Fake-News rechnen musste, die mich mit dem Tod von Kurt Cobain in Verbindung bringen, aber das Leben ist kein fucking Ponyhof, was TJAMC-Fans definitiv wissen sollten, und so beendet die Band das Konzert mit "War on Peace". Kann ich mit leben :-).
Der Blick zu meiner Frau, die ich ja schon ein paar Jahre kenne, verrät mir, dass es für sie ein harter Abend war, weswegen ich auch keine Anstalten mache, noch etwas im Paradiso zu verweilen. Auf dem Fußmarsch nach Hause fallen dann die Worte, die diesen Konzertbericht einleiden und ich bin mir absolut bewusst, welchen Liebesbeweis ich heute bekommen habe. Danke mein Schatz und keine Angst, mit dem nächsten TJAMC-Album ist erst in frühestens 10 Jahren zu rechnen ;-).
SETLIST
Amputation (from "Damage and Joy")
April Skies (from "Darklands")
Head On (from "Automatic")
Far Gone and Out (from "Honeys Dead")
Between Planets (from "Automatic")
Blues From a Gun (from "Automatic")
Always Sad (from "Damage and Joy")
Mood Rider (from "Damage and Joy")
Teenage Lust (from "Honeys Dead")
Cherry Came Too (from "Darklands")
The Hardest Walk (from "Psychocandy")
All Things Pass (from "Damage and Joy")
Some Candy Talking (from "Psychocandy")
Halfway to Crazy (from "Automatic")
Reverence (from "Honeys Dead")
Zugabe:
Nine Million Rainy Days (from "Darklands")
Just Like Honey (from "Psychocandy")
You Trip Me Up (from "Psychocandy")
The Living End (from "Psychocandy")
Taste of Cindy (from "Psychocandy")
War on Peace (from "Damage and Joy")
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