Sehnsuchtsvolle, gerne auch vor Schmerz triefende Melodien sind eigentlich etwas für kalte und nebelige Herbsttage, trotzdem haben die beiden derzeit angesagtesten und begnadetsten Heulsusen – natürlich Briten - fast zeitgleich ihre neuen Alben mitten im Frühling und ohne große Vorankündigung veröffentlicht. Mister JAMES BLAKE wartete am 5. Mai mit "The Colour is Anything" und RADIOHEAD drei Tage später mit "A Moon Shaped Pool" auf. Ein Fest für Trauerklöße!
Beide Alben loten aus, wie tief man mit mehr oder weniger elektronischen Mitteln in die schmachtende Welt der Melancholie hinabsteigen kann - wer nicht aufpasst, könnte sogar in durchaus vorhandene depressive Abgründe stürzen. Nicht, dass wir uns falsch verstehen, ich liebe melancholische Lieder und ich liebe so ziemlich alles, was die beiden Acts bisher veröffentlicht haben. Und um ein für alle Mal klarzustellen, der historische Schlager "Liebeskummer lohnt sich nicht" von Siw Malmquist ist inhaltlich gequirlte Scheiße, denn unzählige Trennungs-, Trauer- und Abschiedalben in der Pop-History haben gezeigt, dass es sich sehr wohl lohnen kann in Schmerz und Leid zu ertrinken!
Bevor ich mich mit den beiden Alben befasse, noch ein Hinweis für (junge) Menschen: Diese beiden Alben empfiehlt es sich auf einer qualitativ hochwertigen Anlage zu hören. Nein, damit meine ich kein iPhone und auch keine grausamen Klangschachteln, die man heute als Lautsprecher bezeichnet. Tut euch einfach selber den Gefallen und genießt bei nicht zu geringer Volumezahl die verschachtelten und ausgetüftelten Kompositionen auf einer richtigen Hifi-Anlage. Bestenfalls natürlich auf Vinyl, aber da muss man bei beiden leider noch etwas warten :-(.
JAMES BLAKE / The Colour in Anything
Es herrscht Stille. Funkstille. Es wurde alles gesagt zwischen dem Paar. Nur "Radio Silence" sendet noch fiepsende Töne, zu denen der Mann am Klavier sein Wehleid klagt "I can’t believe that you don’t wanna see me".
Punkt! Aus! Schluss! "I've done so much since who better to show it to you. It's sad that you're no longer her. It's sad that you're no longer her. No longer her, no longer, no longer her, no longer." "Points" ist eine düstere, verzweifelt klingende aufgeschichtete Soundcollage aus gepitchten und geloopten Vocals, dem ein tiefer Bass folgt. Post-Dubstep per Definiton.
Schrei nach Liebe! "Love Me In Whatever Way" lässt deutlicher echte Songstrukturen erkennen als die vorherigen Tracks, die Stimme wird nur wenig verfremdet. Verhöhnen da Lacher den schmachtenden Barden? Ist das der Blues der Zukunft?
Ein mächtiger tief klopfender Bass eröffnet das mir immer mehr zusagende "Timeless". Im Hintergrund maschinelle Geräusche wie aus einem gigantischen trostlosen Industriepark. Es rauscht. Nur einer möchte anders sein. Er wird durch das Raster fallen. Wird er?
Benutzte nie die Worte "Für immer"! Auf "f.o.r.e.v.e.r." gibt es den entblößten Blake. Schier pure Stimme und reine Pianoklänge zu einem minimalistischen Liebeslied. Der Klangkosmos weit aufgestoßen wird dagegen wieder bei "Put That Away And Talk to Me". Der Bass meldet sich vehement zurück! Zu den für Blake typischen rhythmischen Klängen wie aus einer Fabrik gesellt sich ein in höchsten Tönen agierendes Glockenspiel. Erstmals so etwas wie demokratische Gleichschaltung von Hoch- und Tieftöner. Wer die richtigen Boxen besitzt, darf hier als Wagemutiger ruhig die Grenzen der Belastbarkeit ausprobieren.
"I hope my life is no sign of the times." Ich fürchte sein musikalisches Schaffen schon, denn die Einsamkeit des digitalisierten Lebens und das damit wachsende Verlangen nach greifbaren Dingen kann man modernen und zeitgenössischer nicht mit Noten umsetzen als es Blake bei dieser pochenden elektronischen Gefühlseruption tut - und man kann sogar fast dazu tanzen.
Kann man Bläser aus einem Trauergottesdienst in einen fortschrittlichen Popsong integrieren? Man kann, bei "Waves Know Shores" verschmelzen Bläsersätze mit Orgelklängen zur Skizze eines Schlachtfelds der Liebe. Herr Blake scheint es unendlich schwer mit den Frauen zu haben. Sein Herz ist willig, aber die Widerstände scheinen unüberwindbar. Schöner leiden mit Streichern, Bläsern und einem Herzbeat kurz vorm Stillstand bei "My Willing Heart".
Einer meiner Lieblingssong ist "Choose me". Der elektronische Feingeist Blake zimmert Gospelgesänge an einen Beat aus der Drum and Bass-Ära und lässt die Vocals in den Himmel steigen. Gigantisch - sollte bei ebensolcher Lautstärke rezipiert werden.
Für Menschen, die derzeit in Kanada von Waldbränden gepeinigt werden, ist die Kooperationsnummer "I Need A Forest Fire" zwischen Bon Iver und James Blake sicher nicht ganz schmerzfrei, der erhabenen Schönheit des Stücks wird man sich aber selbst dann nicht entziehen können. Und manchmal kann ein Feuer auch etwas Reinigendes in sich birgen. Großartiges Stück!
Sanft tuckert der Beat bei "Noise Above Our Heads", wo Blake es tatsächlich sogar wagt, seine Stimme zu erheben, weil es zur Hölle noch mal einfach keinen Frieden findet. Ist Blake eigentlich im privaten auch so innerlich zerrissen oder therapiert er sich mit seiner Klagemusik? Würde gerne mal auf ein Bierchen und ein paar Taschentüchern mit dem Briten durch die Kneipen ziehen.
Moll! Moll! Moll! Seine professionellen Klavierkünste zelebriert er in dem Album den Namen gebenden Stück "The Colour In Anything". Er hat noch Hoffnung! Irgendwann brechen die Farben durch. Irgendwann macht Blake ein gutgelauntes Album, in dem nur Dur-Töne vorkommen und zu dem man zügellos tanzen möchte. Vielleicht irgendwann - ich hoffe, es dauert noch ewig ;-)
In nahezu orchestrale Dimensionen entführt das mit flirrenden Keys aufwartende "Two Men Down", das am Rande des psychedelischen Wahnsinns herumstolziert. Auffällig wird spätestens hier, dass Blake auf "The Colour in Anything"seinen Minimalismus maximal erweitert hat. Über "Modern Soul" wurde bereits alles gesagt. Der Titel ist Programm.
Ebenfalls mit einer ordentlichen Prise Modern Soul versehen ist "Always". Lange stampft der monotone Beat zu Klavierklängen, ehe sich Blake wieder mit seinen Vocals im Decoder verfängt, sich harmoniumartige Töne und Hand-Claps integrieren, um neue Klangwelten zu erschaffen. Den Abschluss des mit über 76 Minuten Spielzeit monumentalen Werkes bildet die Voice-Collage "Meet You In The Maze". Unzählige Male erklingt "Music can't be everything". Musik kann nicht alles sein, aber Musik kann alles. Weiter offenlegen lässt sich Emotionalittät im musikalischen Kontext zumindest nicht - zumindest bisher nicht.
Tracklist:
01 Radio Silence
02 Points
03 Love Me In Whatever Way
04 Timeless
05 f.o.r.e.v.e.r.
06 Put That Away And Talk to Me
07 I Hope My Life
08 Waves Know Shores
09 My Willing Heart
10 Choose Me
11 I Need A Forest Fire (feat. Bon Iver)
12 Noise Above Our Heads
13 The Colour In Anything
14 Two Men Down
15 Modern Soul
16 Always
17 Meet You In The Maze
RADIOHEAD / A Moon Shaped Pool
Der Einstieg ist schneller als jeder Song auf Blakes Album. "Burn The Witch" flirrt hektisch und der dröhnende unterschwellige Bass brummt gefährlich. Das im Kopf entstehende Szenario ist Monumentalkino. Dramatische Bilder. Verzweifelte Bilder. Kraftvolle Bilder. Das ist kein Blues, das ist progressivster ArtRock mit vom Videoclip, für den Animationskünstler Chris Hopewell verantwortlich zeichnet, eindrucksvoll unterstrichener Sozialkritik.
"Burn the Witch" zeigt mit dem Finger auf alle, die es sich zu einfach machen, die Zusammenhänge verallgemeinern, um Schuldige ausmachen zu können nur um dem eigenen naiven Seelchen Beruhigung zu geben. Problematisch ist nur, dass man leider davon ausgehen muss, dass genau diese Dumpfbacken mit einer streitbaren, weil immer innovativen Band wie Radiohead leider gar nichts anfangen können.
Das zweite Stück beginnt mit einer Art Glöckchenkakophonie, aus der sich sanft eine Melodie herausschält. Wie bei Blakes "Modern Soul" verhält es sich auch bei "Daydreaming": der Titel ist Programm. Auch bei Radiohead paaren sich Klavierklänge mit elektronischen Sounds und bilden mit Streichern hochemotionale verträumte Klanglandschaften.
Noch geisterhafter und flüchtiger ist "Decks Dark". Es beginnt mit einem Flirren, das man wie aus der Entfernung wahrnimmt, aber immer näher kommt. Wieder gesellen sich als erstes Glöckchen, Piano und Streicher zum sanften Gesang Thom Yorkes. Schwebende Chorgesänge und schließlich eine Gitarre stoßen dazu. Letztendlich klingt es, als wären Folk-Songs von Nick Drake in viele Schichten zerlegt und zu einem gigantischem Luftschloss aufgetürmt worden.
Im nächsten Song "Desert Island Disk" darf die Gitarre von Ed O'Brien eröffnen. Was sehr verhuscht und bedächtig beginnt, wächst sich aus zu einer epischen Filmmusik mit Science-Fiction-artigen Klangmalereien. Bei diesem Song wird erneut deutlich, dass Nick Drake für dieses Album die größte Inspiration gewesen sein muss, nur dass Radiohead mit ihren Kompositionen viel mehr nach dem Raum greifen.
"Ful Stop". Tempoerhöhung. Irgendwie in weiter Entfernung wütet ein bedrohlicher stampfender Beat, der hinter einem Grundrauschen verborgen bleibt. Orientalisch anmutendes Gezwitscher branded auf und ab. Der Beat rückt näher. Die Stimme fleht. Der Schleier zerreist bei 3:10. All Gates are open! Sphärische Popmusik im Sinne von Maurice Ravel.
"Glass Eyes". Wieder erklingt Musik wie zu einem Film und Yorkes wispernde Stimme. Radiohead sind die visuellesten Musiker dieses Planeten. Ein klassisches Streicherarrangement, ein Klavier, gefühlvoller Gesang und im Kopf des Hörers entstehen Bilder. Nicht zu unterschätzen darf man die Mitarbeit des London Contemporary Orchestra, die bei vielen Stücken die Streicher stellten und der Band dabei halfen, ihre flächigen Sounds zu füllen.
Ein tanzbarer Beat und sogar so etwas wie eine Hookline schimmert bei "Identikit" durch. Trotzdem gespenstig, beklemmend, übernatürlich, dämonisch schön. Und wieder darf die Gitarre mitmachen, nicht nur als Beiwerk, sondern als Gleichwertiges Teil des Ensembles - das war auf den letzten Radiohead-Alben nicht immer der Fall.
Aus einer Kakophonie an Pianotönen entsteigt bei "The Numbers" der nächste Folk-Song. Das Schlagzeug marschiert, trotzdem klingt es wie ein Jam. Ein Space-Jam weit weit draußen im Raum. Als hätten sich Radiohead vorgenommen, mit diesem Song die visionäre Fortsetzung von Bowies "Space Oddity" zu erschaffen. Gewaltig schön und man muss feststellen, dass sich vor allem die Arbeit von Bassist Colin Greenwood als Filmmusikschaffender in nicht geringem Maße auf das Album ausgewirkt hat .
Das Schweben geht weiter. "Present Tense" wird geführt von einer mäanderten Gitarrenmelodie und einem rhythmischen Rasseln. Langsam dringt das Schlagzeug in den Vordergrund. Schnittstelle zu James Blake: Yorkes Stimme wird gesampelt und schichtweise übereinandergestapelt. Wie ein flüchtiges Lied am sommerlichen Lagerfeuer, das man so dort aber niemals nicht spielen könnte.
"Tinker Tailor Soldier Sailor Rich Man Poor Man Beggar Man Thief". Ein gedämpfter Electro-Beat, maschinelles Knistern. Wäre nicht Yorkes unverkennbare Stimme, könnte man hinter den Klängen durchaus auch Blake vermuten, oder zu Beginn moderat, aber spätestens wenn die auf diesem Album allgegenwärtigen Streicherpassagen erklingen, ist geklärt, wer dieses Monument errichtet hat.
Hardcore-Radiohead-Fans kennen von den elf neuen Stücken bereits sieben Stücke. Das eigentlich älteste und bekannteste dürfte die Schlussnummer, das live gerne gespielte "True Love Waits" sein. Der Bass rumort in Tiefen, die man bei Blake gewohnt ist und das Klavier scheint in einer Echohalle unter einem Wasserfall zu stehen, so perlen die Klänge in Unendlichkeit aus ihm heraus.
Beide Acts haben geliefert. Die musikalische Qualität beider Alben ist ausgesprochen hoch. Blake zeigt mehr nackte Emotion und Radiohead mehr Intellekt. Blake mal in leuchtendem Mitternachtsblau und Radiohead in tiefem Rabenschwarz. Beides ist ergreifend schön und in beiden Werken lässt es sich wunderschön ertrinken.
Tracklist:
01 Burn The Witch
02 Daydreaming
03 Decks Dark
04 Desert Island Disk
05 Ful Stop
06 Glass Eyes
07 Identikit
08 The Numbers
09 Present Tense
10 Tinker Tailor Soldier Sailor Rich Man Poor Man Beggar Man Thief
11 True Love Waits
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