Sich donnerstags nach einer bisher ziemlich bescheidenen Woche mit zwei Niederlagen des Lieblingsfußballteams und jeder Menge Scheiß, die kein Mensch braucht, zu einem Konzert aufzuraffen, wenn man am nächsten Tag vor Sonnenaufgang malochen gehen muss, ist keine leichte Übung.
Damit ich meinen inneren Schweinehund besiegen kann, gibt es aber die Ticketvorbestellung und gute Freunde, die einen ggf. in den Arsch treten. Für diesen Abend war zwar ein kleiner Würgegriff für den Schweinehund nötig, aber kein Arschtritt, schon gar nicht als ich sah, dass EZRA FURMAN & seine Boyfriends zu seinem Gig, die von mir ebenfalls sehr geschätzte Band THE BLOOD ARM, als Support mitbringen würde.
Wem der Name The Blood Arm nichts sagt, dem sei versichert, dass er wahrscheinlich schon in irgendeiner Indie-Disco dieser Welt auf einen Song der Band getanzt hat - bestenfalls auf "The Chasers".
Die unverwüstliche V., das hüpfende Yps und meinereiner sind direkt zur Einlasszeit am Blue Shell und die Dame dort versichert uns, dass wir heute auf jeden Fall die Jacken an der Garderobe abgeben sollten, denn es würde voll werden. So soll es sein und alles andere hätte mich nach dem großartigen, im Musikexpress sogar zum Album des Monates gekürten Werk "Perpetual Motion People", zutiefst verwundert.
Ziemlich pünktlich um 20:30 beginnt die Show. The Blood Arm, ursprünglich aus L. A., aber seit 2012 in Berlin ansässig, entern die Bühne. Sänger Nathaniel Fregoso trägt schwarze sehr enge Kleidung. Die Jeans lässt Tragegewohnheiten erkennen und der geschlossene oberste Hemdknopf scheint innerhalb der nächsten Sekunden einen Stage-Dive ins Publikum wagen zu wollen.
Aber nicht nur der Frontmann, auch der Rest der Band bietet Anreize fürs Auge. Keyboarderin Dyan Valdes ist in ein hautenges kurzes goldenes Cocktail-Kleidchen eingenäht und Schlagzeuger Matt Wheeler trägt einen krausen langen Bart in Catweazle-Tradition. Die Männer an den Gitarren sind visuell die unscheinbarsten, allerdings entpuppt sich der Bassist im Laufe des Konzerts als meist Lächelnster und Gutgelauntester seiner Art.
Da ich nur im Besitz von zwei, "Lie Lover Lie" (2006) und "Infinite Nights" (2013), der vier Alben umfassenden Diskographie der Band bin, werde ich es, zum Ärgernis aller Fakten-Fetischisten, nicht hinbekommen, die Setlist zu memorieren, sondern versuchen, den Auftritt einfach als das zu würdigen, was er war, nämlich eine rundum gelungene, höchst unterhaltsame Rock'n Roll-Show.
Obwohl, wie schon erwähnt, auch die anderen Bandmitglieder über enorme Bühnenpräsenz verfügen, ist der Fixpunkt des Geschehens der immer agile, tänzerisch extrovertierte Sänger Nathaniel Fregoso. Dieser Mann ist der geborene Entertainer und erinnert mich nicht selten an den Gott der Posen, Herrn Morrissey! Die Songs sind meist relativ einfach gestrickt und sehr rhythmisch, so dass man selbst unbekannte Nummern, dank der smashigen Refrains, unverzüglich mitsingen kann. Es spielt also überhaupt keine Rolle, ob man mit dem Reportoire der Band vertraut ist, der Spaßfaktor liegt automatisch bei 100%.
Ein Highlight des Abends ist, als die Cleopatra des Rock'n'Roll hinter den Keyboards hervortritt und "What Kind of Animal R U?" ins Mikro säuselt. Gute Frage. über die ich noch etwas grübeln muss. Der Song ist nigelnagelneu und wird auf dem im Februar 2016 erscheinenden Album "Kick ‘em in the Sunglasses" zu finden sein.
Wenn sich da noch mehr solche Perlen verstecken, darf man sich auf das fünfte Album der Band, das, wie es auf der Homepage der Band heißt, sich verbindlich dem Band-Manifest "Sex, Rock & Roll, Literature!" verschrieben hat, äußerst gespannt sein. Ich zitiere: Es soll sich um eine unerschrockene Reise durch das Berliner Nachtleben handeln, mit Texten so heiß wie eine brennende Bibliothek :-).
Heiß ist es auf jeden Fall schon heute Abend, so heiß, dass Nathaniel Fregosos schwarzes Hemd mittlerweile klatschnassgeschitzt ist - aber der Knopf noch immer hält! "The Chaser" wird heute leider nicht gespielt, aber "Infinite Nights" erklingt für alle närrischen Verliebten und zum Schluss gibt es natürlich mit "Suspicious Character" den großen Hit der Band. Und alle Herren singen mit: "I like all the girls, and all the girls like me.".
Suspicious Character von The Blood Arm auf tape.tv.
Flux neues Becks am Tresen einholen, den Schweiß bei einer Zigarette im Freien verdampfen lassen und fertig machen für das Finale mit Ezra. Wird er wohl im Kleidchen auftreten? Trägt er das Chanel-Jäckchen aus dem Video zu "Restless Year"?
Um die Spannung zu erhöhen, ist vor der Bühne ein Vorhang zugezogen, so dass man nur mutmaßen kann, wie der 29-jährige Songwriter aus Chicago heute seine feminine Seite ausleben wird. Aber dann wird der Schleier gelüftet und Ezra zeigt sich in einem rot-weiß gestreiften Damentop mit Perlenkette um Hals und Handgelenk, knalligem roten Lippenstift und grau-meliert gefärbten Haaren. Im Damen-Business-Zweiteiler wäre eine politische Karriere in diesem Outfit durchaus möglich.
Aber keine Angst, Herr Furmans Persönlichkeit widerspricht in allen Punkten dem von ihm gerne gewähltem traditionellem Kleiderstil. Seit fast 10 Jahren agiert dieser spleenige extravagante Kauz mit der schrägen Stimme im Musikbusiness. Drei Alben veröffentlichte er von 2007 bis 2011 unter dem Namen Ezra Furman and the Harpoons, ehe er 2012 sein Solo-Debüt "The Year of no Returning" veröffentlichte. Dann entschloss sich Ezra aber wieder eine Band um sich zu sammeln und musiziert seit 2013 und dem Album "Day of the Dog" mit seiner Begleitband den Boyfriends.
All dies ging erstaunlicher Weise völlig an mir vorbei, bis der Musikexpress im Juli diesen Jahres "Perpetual Motion People" zum Album des Monats ernannte. Seitdem arbeite ich daran, mich mit Begeisterung durch die vorher veröffentlichten fünf Alben zu hören und wie oft das blaue Vinyl des aktuellsten Werks bereits auf meinen Dreher seine Kreise drehte, wage ich nicht zu beziffern.
EZRA FURMAN & the Boyfriends beginnen das Set mit "Anything can happen" vom 2012er Album. Ein Song mit einer wunderbaren Aussage für einen Konzertbeginn, sehr gutgelaunt, mit Hand-Claps und Saloon-Klavierklängen, irgendwo zwischen Rocky-Horror-Picture-Show und Violent Femmes anzusiedeln. Spätestens bei "At the Bottom of the Ocean" fällt mir auf, dass die Stimme von Ezra live viel kratziger klingt als auf Platte, deutlich weniger weiblich, sondern viel mehr nach Bob Dylan!
Ezra und seine Boyfriends haben sichtlich Spaß auf der Bühne und der Bandleader ist geradezu hingerissen vom ausverkauften Blue Shell und speziell von der Größe der Location. Sein letztes Köln-Konzert fand im schnuckeligen winzigen King Georg statt und ich bin mir sicher, der nächste Köln-Gig wird wahrscheinlich im Gebäude 9 oder einer ähnlich großen Location stattfinden. Wäre auch okay, aber bitte niemals nie die verfluchte Lanxess-Arena.
Mit einem Feuerwerk aus immer leicht schrägen Songs mit witzigen, charmanten, ironischen und unorthodoxen Texten verzaubert Ezra badend in sinnlicher Lust am Spiel das Publikum. Wohl wahr, was das begeisterte Yps mehrfach anmerkt: "Dieser Typ ist echt ein helles Köpfchen".
Natürlich, ist Ezra
irgendwie drüber, sehr spleenig und andersartig, aber, obwohl ich mir
nicht sicher bin, ob er sogar irgendwelche Substanzen konsumiert hat,
strahlt er in seinem Tun eine unglaubliche Klarheit und Fokussiertheit
aus. Ezra ist ein Bühnen-Junkie! Aber im Vergleich zu anderen
Rock'n'Roll-Animals wirkt er wie einer, der über den Dingen steht, den
einfach nichts daran hintern kann, seine Botschaft von guter Musik unter
das Volk zu bringen.
Und seine Musik, sein aufmüpfiger genreübergreifender IndiePop, ist gut. Verdammt gut! Bestes Beispiel "Haunted Head". Die Melodie ist hinreisend, erinnert an große Momente von David Bowie, bleibt aber unverkennbar ein echter Furman-Song
und wie so oft ist es auch bei diesem Lied das Saxofon, das dem
Arrangement eine schwelgerische melancholische Note verleiht. Besonderer Applaus
gilt an diesem Abend dem Herrn am besagten Blasinstrument, der mit vollem
Körpereinsatz das Saxofon mit Leben füllt.
Irgendwann hat Ezra dann die Grenze der zulässigen Höchsttemperatur erreicht und verzückt überraschenderweise die Damenwelt damit, dass er kurzerhand sein Top entsorgt, um mit blanker Brust - ich verkneife mir aus Respekt die Bezeichnung Hühnerbrust - in die Saiten zu greifen. In einem der vergangenen Konzertberichte erwähnte ich ja, dass mein treuer, heute leider nicht anwesender Konzertbegleiter C. auch kein Typ ist, der durch Körpermasse auf sich aufmerksam macht, aber gegen Ezra ist C. ein Fleischberg!
Und sind hier Leser anwesend, die sich an Nenas ersten Fernsehauftritt in Minirock erinnern? Stichwort Achselbehaarung? Ja, auch Ezra hält nicht viel vom derzeitigen Trend, der Körperbehaarung den Garaus zu machen.
Für alle, die Äußerlichkeiten nicht interessieren und die nach Songstiteln gieren: "I Wanna Destroy Myself" und "Day of the Dog" sind live genauso amazing wie auf Tonträger, und "The Mall" klettert in der Liste meiner liebsten Ezra-Songs durch den heutigen Auftritt deutlich nach oben. Richtig hin und weg bin ich, wie gefühlvoll und eindringlich Furman das Liebeslied "Bad Man" live darbietet.
"My heart's been misfiled by the U.S. Postal Service.
All these people with their expectations make me so nervous. And people like them could never be like people like you.
You're too bright for me, I'm too dumb for you
In the night I see your face in the moon. You're the one who stands rock-solid in the shifting sands
And I'm a bad, bad man with a place in my heart for you."
Fast hätte ich eine kleine Eskapade am Rande vergessen. Wie beschrieben ist Ezra eigentlich ein Typ, der auf der Bühne voll in sich ruht, so überspielte er beispielsweise lässig die mehrfachen Rufe nach seinen alten Hit "Take Off Your Sunglasses" aus den Zeiten mit den Harpoons, aber im Blue Shell schaffte es ein Fan dann doch den Zeremonienmeister kurzzeitig aus der Fassung zu bringen. Was war passiert? Am Ende eines Liedes reichte eine ziemlich junge Dame dem verdutzten Ezra einen goldenen Ring. Der Gesichtausdruck des Sängers, der derartige pubertäre Liebesbekundungen auf der Bühne wohl eher nicht gewohnt ist, ähnelte in etwa dem Gesichtsausdruck eines Eichhörnchens, das mitten in das Aufblendlicht eines Autos starrt.
Die Zeit vergeht wie im Sturzflug und als Ezra & die Boyfriends die Bühne verlassen, denke ich wie schön es wäre, wenn eine Arbeitswoche auch mal so zügig von dannen gehen würde. Der Vorhang schließt sich, aber das Publikum hat noch lange nicht genug und fordert stürmisch Zugabe, die auch schon nach wenigen Minuten vom Künstler gewährt wird.
Das Bonusprogramm beginnt mit "Crown of Love" einer Coverversion von Arcade Fire. Einfach zum Niederknieen. Großartig! Ezra will jetzt eindeutig, dass das Publikum seine innerliche Ekstase in die Füße übergehen lässt. Er erhöht das Tempo. Bei "Wobbly" potenziert sich die Zahl der Tänzer und beim Finale Furioso mit "Restless Year" explodiert die Menge und selbst ich alter Knabe hüpfe rempelnd, glücklich und schweißgebadet durch den Raum.
Wow, ich hatte in diesem Monat ja schon zwei exzellente Konzerte mit der Jon Spencer Blues Explosion und mit Glen Hansard, aber dieser Abend ist die Krönung. Was für ein Konzertmonat und jetzt steht auch schon der Rolling Stone Weekender vor der Tür! Muss mir unbedingt Vitaminpillen einpacken!
ABER ein bisschen Schimpfe muss auch sein! Erstens, weil Ezra doch tatsächlich "Can I Sleep In Your Brain?" nicht gespielt hat und zweitens, weil am Merchandisestand zu wenig Vinyl vorhanden war, so dass mir die unverwüstliche V. doch tatsächlich die letzte "Day of the Dog" vor der Nase weggeschnappt hat - aber es war ja für einen guten Zweck ;-).
Definitly see you again Ezra! Thank you for this wonderful evening.
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