PianoPop mit großer Stimme und großer Geste - vergesst Adele!
Lange Zeit war ich fehlgeleitet und habe der CD gehuldigt, ehe ich wieder ins warme Vinylreich zurückgefunden habe. Nun müssen natürlich die verlorenen Jahre aufgeholt werden und so gibt es einen ellenlangen Vinyl-Wunschzettel mit Alben, die ich zwar auf CD besitze, aber noch nicht im einzigen wahren Format. Eines der nun wieder in Vinylform nach Hause gekehrten Alben ist das 1992 erschienene Werk "Little Earthquakes" von Tori Amos.
Exakt zwei Tage nachdem ich diesen Heimkehrer wieder begrüßen durfte, schneit mir ein Newsletter ins Postfach, der eine auf dem Cover sehr jung anzusehende Dame preist, die sich LILLY AMONG CLOUDS nennt und die mich vom Aussehen an die großartige Samantha Crain erinnert. Ich erwarte also akustischen Singer/Songwriter Pop, vielleicht mit Countryeinflüssen, vernehme dann aber Musik, die mich an besagtes heimgekehrtes Album erinnert, welches seit Tagen wieder Runden auf meinem Plattenteller dreht.
Dann lese ich im Info-Paper, dass Lilly Brüchner, so der Geburtsname der Künstlerin, aus Würzburg, meiner Heimatstadt stammt und ich bin freudig erregt, denn bisher ist Würzburg in Sachen Musik ja ein völlig unbeschriebenes Blatt und auch nach zwanzig Jahren stelle ich so etwas Seltsames wie Heimatstolz fest.
Genug drumherum geschwafelt. Lillys Debüt-EP enthält fünf selbstkomponierte Songs; von denen kein einziger auch nur ansatzweise nach fränkischer Provinz muffelt. Ganz im Gegenteil, die Produktion von "Lilly Among Clouds" ist auf Champions League-Niveau und kann sich locker mit dem wiedergekehrten Pop-Schwergewicht (Keine Anspielung auf das Körpergewicht der Künstlerin!) Adele messen. Ja, da lehne ich mich weit aus dem Fenster, aber was wahr ist; muss wahr bleiben;; sagte meine fränkische Großmutter immer!
Selbst Fans der britischen Ausnahmesängerin dürften beim EP-Opener "Keep" kurz zweifeln ob das nun ein neuer Adele-Song ist, denn Lilly ist ebenso stimmgewaltig, ebenso einfühlsam, ebenso emotional und ebenso perfekt produziert. Die zweite Nummer der EP, "Blood & History", klingt dann wie eine der zauberhaft Pianoballaden; wie sie Tori Amos in ihrer langen Karriere vielfach produziert hat. Die Komposition hat eine wunderbare Dramaturgie. Melancholie tropft von allen Noten. Der Gesang ist fehlerlos in den leisen und den lauten Tönen. Kurz: CinemascopePop par excellence mit 100% Hit-Potential.
"Well I could" spaziert zwischen den Genres. Der Song baut auf elektronische Beats; die an Dillon erinnern, im Gegensatz zur Brasilianerin bleibt die Würburgerin aber nicht konsequent minimalistisch, sondern steigert von Strophe zu Strophe die Dosis und setzt im Finale des Songs sogar Akzente mit Dancefloor-Elementen.
"Remember me" erfüllt die Erwartungshaltung, die ich hatte, als ich nur das Cover der EP gesehen und noch keinen Ton gehört hatte: Singer/Songwriter-Pop. Aber Vorsicht, wenn der Rhythmus ins Rollen kommt, tanzt das Klavier immer wieder in Richtung BombastPop. Und Lilly singt sooooo gefühlvoll. Die nachfolgende unplugged Version des Songs ist ebenfalls umwerfend!
Mein Lieblingssong ist "Long Distance Relationship". Die Verbindung der kühlen elektronischen Klänge mit der warme Alt-Stimme von Lilly passt einfach vorzüglich. Hier erinnert mich Lilly wegen der schier körperlich spürbaren Gesangsintensität an eine andere große Klavierkünstlerin: Regina Spektor. Wirklich großes Kino für eine Künstlerin; die sich gerade erst inmitten der Zwanziger befindet und von der man deswegen mit Sicherheit noch mehr hören wird.
Als kleiner Tipp vom Ö: nicht so sehr von den Produzenten in die Adele-Schiene drängen lassen, sondern lieber an Künstlern wie Regina Spektor, Tori Amos oder sogar Shilpa Ray orientieren - und trotzdem immer schön das eigene Ding durchziehen ;-)
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