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Mittwoch, 29. Juli 2015

SLEEP / Sleep

Ach, vom Gevatter Schlaf könnte ich auch ein Lied singen. Mal zu viel, mal zu wenig, mal zu tief, mal zu unruhig und mit zunehmender Alter benötige ich tatsächlich mehr, obwohl ich mich von der senilen Bettflucht nicht gänzlich freisprechen kann.

Auch Andreas Spechtl, seines Zeichens Dichter, Denker und Frontmann der Band Ja, Panik hat sich seine Gedanken zum Thema Schlaf gemacht und dem kleinen Bruder des Todes sein erstes Solo-Album gewidmet. Also Augen zu und hinein in die Schlafwelten des Herrn Spechtl.

Befragt man Tante Google nach einer Definition für den Schlaf erhält man die rein sachliche Erklärung: "Schlaf ist der Ruhezustand des Körpers, in dem das Bewusstsein ausgeschaltet ist und viele Körperfunktionen herabgesetzt sind." Wir befinden uns also im Ladezustand wie unser geliebtes Handy an der Docking-Station. Aber ist das alles?

Der deutsche Dramatiker und Lyriker Christian Friedrich Hebbel (1813 - 1863) beschrieb Schlaf als das Hineinkriechen des Menschen in sich selbst. Zu dieser Beschreibung passt sehr gut das von Spechtl für sein Album aufwendig, weil nondigital, geschaffene Artwork. Kriecht Andreas in den Schatten oder löst sich der Schatten aus Andreas?



Was Hebbel damit auf den Punkt bringt ist, dass wir im Schlaf gerne verarbeiten, was wir im Wachzustand wahrgenommen haben. Andreas Spechtl ist ein Künstler, der vieles wahrnimmt, was seine Texte für Ja, Panik, immer wieder beweisen. Für SLEEP hat er nun seine akustische Wahrnehmung geschärft, um Geräusche im sogenannten Field-Recording aufzuzeichnen und für sein Projekt mit dem Schlaf zu verwenden.

Nachdem das Vinyl zum zweiten Mal durchgelaufen ist, kann ich zweifelsfrei feststellen, dass Herr Spechtl einen sanften und liebevollen Schlaf hat - mit einer kleinen Ausnahme. Obwohl es sich ganz eindeutig um elektronische Musik handelt, ist "Sleep" nämlich ein sehr warmes Album, ganz im Sinne der Hauntology auf die auch im Sleeve der Platte verwiesen wird. Philosophische Erläuterungen zum Thema Hauntology erspare ich mir hier. Wer weitere, durchaus interessante, Information dazu und über Begründer Jacques Derrida erhalten möchte, der folge den entsprechenden Links im Artikel.

Immer auf der Suche nach Vergleichen, um zu beschreiben, was man hört, kommen mir beim Hören ganz unterschiedliche Musiker in den Sinn: Burial, Leftfield, Pantha Du Prince aber auch Portishead, Phantom/Ghost und ganz besonders "Slow Motion 01" " von Conrad Schnitzler.

Verwandtschaften sind also vorhanden, aber Herr Spechtl hat natürlich seinen eigenen Kopf:

1. "Sister Sleep": Der Song beginnt wie ein Ennio Morricone-Song für einen Italo-Western aus dem Jahr 2024. Klavierfragmente und elektronische Soundsprengsel gesellen sich dazu. Der Dub brummt im Tiefschlaf, eine Trompete buhlt um Aufmerksamkeit und irgendwie klingt es nach Ethno-Pygmäen-Musik und Country gleichzeitig - ein eindrucksvolles Meeting mit Schwester Schlaf!



2. "Hauntology": Es flirrt und zirpt. Weiterhin Dub. Auch wieder ein blechernes Blasinstrument, aber nicht so sehnsuchtsvoll wie bei "Sister Sleep". Der Beat mäandert zwischen hektisch und relaxt - auf keinen Fall Tiefschlaf. Hier wird verarbeitet! Die Maschinerie rattert und läuft, aber mit gelegentlichem Stolpern.

3. "After Dark": Die Dunkelheit kehrt immer wieder. Eine Schleife ist eine Schleife. Schmeckt nach Indien - nach Loop Guru und Ravi Shankar. "Watch out in Germany after the Dark!" Können Sie noch ruhig schlafen?

4. "Bhx Dub": Mehr Klangkonstrukt als Songstruktur. Dub. Das Saxophon ist seit "Libertatia" in Spechtl-Kreisen gesellschaftsfähig.

5. "Time To Time": Wäre eigentlich der bessere Einstiegssong ins Album gewesen. Klingt wie die erste Phase während des Einschlafens. Man nimmt noch unterbewusst Geräusche war, aber versinkt dann langsam im tiefen Schlaf. Der Song hat etwas von der schlafwandlerischen Leichtigkeit, die Air-Songs gerne anhaften. Hier sei noch mal an den völlig unterbewerteten großartigen Soundtrack der Franzosen zu "The Virgin Suicides" hingewiesen - der sich ja auch mit dem Bruder des Schlafes befasst.

6. "Duérmete Niño": Athmosphärisch von unglaublicher Dichte. Ein perlendes Klavier, Fragmente eines spanischen Kinderliedes. Wie ein nächtlicher Flug über den schlafenden Körper. Irgendwie schwerelos.

7. "Cinéma Rif": Field Recording in einem Café (mutmaßlich in Marroko). Jemand bestellt laut und deutlich einen Kaffee, dann setzt der tiefe Bassbeat ein und Spechtl singt (wie immer auf diesem Album ausschließlich in englisch) irgendwie geisterhaft. Die Dramatik steigt, der Körper wälzt sich unruhig in seiner Liegestätte ehe er erschöpft bewegungslos verharrt - und die Tassen im Café klirren dazu.

8. "Jinja Nights": Das Schluss-Opus, in dem das Saxophon, gespielt von Rabea Erradi, seine endgültige Heiligsprechung zwischen Geräuschkulissen und Klangkörpern erfährt. Dazu singt Spechtl von einer verregneten nächtlichen Taxi-Fahrt unter dem Einfluss von psychoaktiven Substanzen - siehe auch Tame Impala ;-)

"Der Schlaf ist doch die köstlichste Erfindung."
[Heinrich Heine; 1797-1856]

... da kann man sich sogar von der Rebellion erholen ;-)

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