Traditionell gibt es die erste Tagesmahlzeit im Apartment unserer Damen, wo die unverwüstliche V. bereits wieder ausschaut, als hätte sie gestern nur heiliges Quellwasser getrunken. Kaffee und Hühnerbrühe stehen bereit, um Kater, Affen und sonstige Tiere zu vertreiben.
Nach dieser körperlichen Stärkung sind ALLE bereit für neue Aufgaben. Erste Pflicht: Strandspaziergang! Das Wetter ist großartig und so drückt sich keiner vor frischer und belebender Seeluft. Ich halte den Spaziergang allerdings etwas kürzer als die anderen Damen- und Herrschaften, denn ich muss ja unbedingt noch Vinyl diggen.
Natürlich werde ich fündig, aber muss erneut feststellen, dass die Preise für das schwarze Gold weiter am Steigen sind. Krassestes Beispiel: Vor einigen Jahren habe ich mir hier für magere fünf Euro "Haiko Ambulanz" von Fink gekauft, heute will der selbe Schallplattendealer dafür 25 Euro.
Gegen 15.30 geht es in Die Bar - oder muss man es englisch aussprechen ;-) - um zumindest eine Halbzeit lang Bundesliga zu schauen. Das scheint sich aber herumgesprochen zu haben, dass man hier Bierchen, Kippchen und Fußball in schummriger Atmosphäre genießen kann, denn es gibt kaum noch Plätze, an denen man Blick auf die Bildschirme hat. Die meisten in unserer Truppe haben nicht nur Musik-, sondern auch Fußballverstand und sympathisieren deswegen natürlich mit den Königsblauen. Lange Zeit lag der Weekender-Fluch über die Königsblauen, wenn am Weekender gespielt wurde, aber letztes Jahr hatte sich das Blatt gewendet - aber ich gestehe, ich und auch der Herr Professor hatten es völlig vergessen, weswegen wir von einer Niederlage in Freiburg ausgingen. Zu unserer großen Freude war dies aber nicht der Fall, auch wenn die erste Halbzeit katastrophal war, aber das schmälert die Freude über den Dreier nicht. In Sachen Köln hüllen wir dieses Jahr den Mantel des Schweigens.
Sobald der Halbzeitpfiff ertönt, gehe ich mit C. die Treppen hoch in den Baltic Saal und mache den Mann an der Garderobe glücklich, indem ich die kürzeste Hängedauer eines Kleidungsstückes in die Weekender-Geschichtsbücher eintrage. Das konnte ich aber beim Abgeben für einen Euro noch nicht wissen, denn eigentlich bin ich ein großer Fan von Tilman Rossmy und seinem Band-Projekt DIE REGIERUNG und das neue, auf Staatsakt veröffentlichte Album "Raus" hat einige starke Stücke. ABER, die Livestimme ist wirklich ziemlich grottig und die ersten beiden Songs haben so gar nichts Aufwühlendes, sondern sind vom Ponyhof-Kaliber. Und dabei spielt hier einer, der mit "Corinna" einen meiner All-Time-Favorites erschaffen hat.
Nach wenigen Minuten sind wir deswegen zurück an der Garderobe und ich erhalte meinen Mantel frisch gereinigt, gestärkt und aufgebügelt zurück - Spaß. Das Lalala-Geschnulze der einst gar nicht schlechten FRISKA VILJOR ist unerträglich, weswegen wir zur Alm pilgern, wo uns unerwarteter Weise ein Fest für die Augen erwartet.
Auf der Bühne steht das Duo KOLARS aus Los Angeles. Beide tragen Glitzerklamotten, Rob Kolar ein Jackett und Lauren Brown ein Kleidchen, welches ihr gerade so über die Taille reicht. Rob spielt Gitarre und singt und Lauren spielt im Stehen mit ihrem ganzen Körper Schlagzeug. Die Musik der beiden ist gefälliger Desert-Glam-Disco-Rock mit eingängigen Melodien, aber noch vor der Musik steht der Entertainement-Faktor, mit dem die beiden oder besser vor allem Lauren die Alm, die innen ja sowieso wie eine Sauna aussieht, in einen Sauna-Club verwandelt. Ja, diese Dame weiß mit ihren weiblichen Reizen zu spielen und hat ganz sicher nichts unter #MeeToo gepostet, denn wenn ihr ein Typ blöde kommt, wird er wahrscheinlich mit Haut und Haaren verschlungen.
Mehr Details? Aber bitte! Schon bevor es eigentlich losgeht, sucht die Lady nach mir nicht bekannten Dingen auf dem Boden und streckt dabei ihre Kehrseite ins Publikum, wobei natürlich das kurze Glitzerkleidchen durch physikalische Naturgesetze nach oben gezogen wird. Ui, ui, ui, wenn das ihre Mutter wüsste! Das kokette Spielchen geht über das ganze Konzert so. Nach jedem Song trocknet sie ihre Drumsticks mit dem Hauch von Stoff ab und provoziert weitere Hochrutscher, was sie während des Schlagzeugspielens mit ihrer Zunge fabriziert darf ich aus Jugendschutzgründen nicht weiter ausführen und bei einigen Songs gibt sie sogar Stepptanzeinlagen. Ob sie schon mal darüber nachgedacht hat beim Spielen eine Banane zu essen?
Fazit: die Kolars sind live ein Fest für die Sinne, das man nicht besuchen sollte, wenn man beschlossen hat, die nächsten zwanzig Jahre in Enthaltsamkeit zu leben. Mir ist auch heute, Tage später, noch ziemlich heiß bei dem Gedanken an den Auftritt.
Dann steht ein Künstler auf dem Programm, dem ich seit seinem selftiteld Debütalbum "Benjamin Booker" sehr verehre, ich aber noch nie das Glück hatte, ihn live zu erleben - im Gegensatz zum treuen Konzertbegleiter C., der mir ständig unter die Nase reibt wie großartig das Konzert in Köln damals war.
Erstaunt stelle ich fest, was für ein braver und extrem junger Bursche dieser Mann mit der Reibeisenstimme ist! Ganz ehrlich, Herr BENJAMIN BOOKER wirkt so sympathisch und liebenswert, dass ich ihm ohne weiteres meine beiden gutaussehenden, gerade erwachsenen Töchter für einen nächtlichen Waldspaziergang anvertrauen würde.
Musikalisch gibt es überhaupt nichts zu bemängeln am Auftritt des Mannes aus New Orleans. Die Stimme klingt genauso perfekt wie aus der Dose und auch die Band bringt die Songs perfekt über die Bühne. Großes Kino! Die Mischung zwischen Bookers erstem, sehr rohem Album und dem zweiten sehr souligen Werk "Witness" gelingt live erstaunlich gut, da muss nichts passend gemacht werden, das Set fließt. Das Einzige, was mich irgendwie stört ist die fast vollständige Abwesenheit von Aggression in Bookers Performance, die speziell bei den Stücken vom Debütalbum so konträr zu den Stücken wirkt. Und wieder seltsam, trotzdem sind "Wicked Water" und das Meisterwerk "Violent Shiver" vom Erstling meine Highlights des bisherigen Abends.
Nächster Act - wieder vom Staatsakt-Label. ISOLATION BERLIN! Bisher live auch immer durch die Lappen gegangen, deswegen Kevin Morby und Andy Shauf, die ich beide sehr schätze, heute leider ohne mich. Und auf der Alm ist es halt am Schönsten!
Die Herren aus Berlin schauen aus, als seien sie die letzten übrig gebliebenen Mitglieder von Ton Steine Scherben, allerdings ohne dass sich das Rad der Zeit seit 1970 weitergedreht hätte. Und natürlich gibt es auch zwischen den linkspolitischen Texten und der Art der Gesangs und auch der Melodieführung Berührungspunkte mit den legendären Scherben - kann man ja auch schlechtere Vorbilder haben.
Blickpunkt auf der Bühne ist eindeutig Sänger und Gitarrist Tobias Bamborschke, der sich als sehr plauderfreudig und charismatisch entpuppt - jemand auf der Bühne, der den Namen Frontmann wirklich verdient. Das Set schwankt gekonnt zwischen Melancholie und aufrührerischer Wut, was Bamborschke auch stimmlich perfekt hinbekommt, wenn er entweder zart oder brachial die Töne ausstößt - oder sogar auskotzt. Ganz klar, Isolation Berlin macht live richtig Spaß! Berührendster Moment, die greifbare Schwermut beim Song "Isolation Berlin" und stärkster Moment, als beim vehement geforderten "Fahr Weg" ein Energieschub durch Band und Publikum jagt. Nach dem Gig bin ich stimmlich doch sehr angeschlagen, aber ich liebe es einfach, Parolen mit zu grölen. FAHR WEG!
Nächste Station Zeltbühne mit den wiedergeborenen BritRave-Shoegazing-Helden von RIDE. Es ist ja immer so eine Sache, wenn Bands im betagten Alter wieder auf die Bühne steigen, aber das neue Album "Weather Diaries" ist gar nicht von schlechten Eltern und so freue ich mich auf den Auftritt der Briten. Und was ich so höre ist durchaus fett. Die Wall of Sound steht wie früher und auch gesanglich gibt es nichts zu bemängeln. Leider kann ich aber nicht bis zum Schluss bleiben, denn ein guter Facebook-Freund hat mir mal voller Inbrunst von einem Auftritt der Algiers in Berlin vorgeschwärmt, weswegen ich mich schweren Herzens gegen PARADISE und für die Algiers entscheide.
Keine einfache Entscheidung, denn von Madrugada habe ich alle Scheiben in meiner Sammlung und das zweite Album "The Underside of Power" der ALGIERS ist nicht gerade leichte Kost.
Um die Musik der Algiers in Worte zu fassen, bedarf es vieler Genrenennungen: Soul, Rock, Gospel, Punk, Psychedelic, Industrial, Blues und davon noch gefühlt hunderte von Sub-Genres. Was aber mehr über die Band aus Atlanta aussagt ist, dass sie sehr experimentierfreudig ist und dass einen sogar aus der Dose die Energie dieser Band förmlich anspringt.
Ein Grund weswegen das Quartett Musik macht, prangert direkt auf der Startseite der Homepage der Band, "JOIN THE FIGHT BACK" steht da in großen Lettern. Mit Hurray For The Riff Raff und Isolation Berlin sind bisher schon zwei Revoluzzer-Bands meine Lieblinge des diesjährigen Weekenders, aber ich nehme es vorweg, die ALGIERS stellen alles in den Schatten.
Sänger Franklin James Fisher sprüht vor Spielfreude und Energie und zusammen mit Ryan Mahan (Keys, Bass), Lee Tesche (Gitarre) und Ex-Bloc Party-Member Matt Tong setzten die fantastischen Vier das Witthüs in Flammen. Es ist laut, es ist hochenergetisch, es ist mitreißend, es ist ungewöhnlich, es ist faszinierend, es ist politisch, es ist einzigartig! Fisher singt mit Inbrunst, er kniet nieder, er wälzt sich auf der Bühne. Mahan bearbeitet seine Keys wie ein Tier. Tesche benutzt bei einem Song eine zum Perkussioninstrument umgebaute E-Gitarre, deren Hals abgesägt und die Saiten durch Stahlfedern ersetzt sind und Matt Tong, den wahrscheinlich sogar große Bloc Party-Fans kaum wiedererkennen, bearbeitet wuchtig und mit stoischer Ruhe seine Felle. Diese Band will mit der Gewalt eines Tsunamis Gehirne durchpusten! Ab sofort reihe ich mich uneingeschränkt ein in die Anhängerschar dieser Band und leiste große Abbitte, dass ich bisher keine Vinylscheibe dieser großartigen Formation besitze - dieser Makel ist mittlerweile natürlich behoben ;-).
Völlig beseelt, mit erhöhtem Adrenalinspiegel und klingelnden Ohren geht es zum Abschluss des Weekenders ins Zelt, wo die Ska-Veteranen von MADNESS bereits ihr bestes geben.
Früher war ich ein großer Fan der Combo und so manche Nacht wurde mit "Baggy Trousers", "One Step Beyond" ..." und dem Mega-Hit "Our House" durchgetanzt. Heute steht auf der Bühne eine altgewordene Truppe, die es - ganz besonders nach dem Feuerwerk der Algiers - schwer hat, mich zu begeistern. Madness wirken müde und stellenweise gar wie eine Parodie ihrer selbst. Es freut mich zwar die alten Hits wiederzuhören, besonders freut mich die Coververion "Chase The Devil" von Max Romeo, aber vielleicht wäre es doch besser gewesen, Madness anders in Erinnerung zu behalten.
Ich plädiere hiermit an die Weekender-Organisatoren etwas weniger Rentenrückkehrer auf die Bühnen zu holen und auch im Zelt mal frischere Bands zum Zuge kommen zu lassen. Mir ist schon klar, dass für den Ticketverkauf beim gesetzten Publikum des Weekenders die alten Zugpferde benötigt werden, aber versucht doch mal lieber einen durchgängig aktiven Klepper, wie z. B. The Cure ;-), als dicken Fisch zu fangen und dann noch mehr junge Fohlen als dieses Jahr an den Start zu bringen.
Zum Abschluss des Weekenders geht es wieder zum Abtanzen ins Witthüs, wo ich leider nicht wie erhofft die DJane vom letzten Jahr am Turntable sehe, sondern einen Herrn, der mir bisher unbekannt scheint - wobei ich mich wahrlich nicht mehr an alle vergangenen Weekender-Wochenenden erinnern kann ;-). Der DJ macht seine Sache, besser als DJ Flippo-Was-auch-immer gestern und spielt nicht nur 1000mal gehörte Indie-Kracher, sondern gerne auch mal weniger bekannte Stücke. Ich tanze jedenfalls bis hinter mir abgeschlossen wird und schüttle noch immer den Kopf über ein Buchhalter-Paar, dass mich auf der Tanzfläche blöde ankackte und darauf hinwies, dass hier kein Pogo getanzt wird. Sachen gibt es, die gibt es gar nicht! Nur für euch beiden Sesselpupser:
Wäre übrigens auch eine gute Band für den Weekender 2018.
Insgesamt für mich einer der stärkeren Weekender, mit drei herausragenden Konzerten und keinerlei wirklichen Ausfällen - weder in musikalischer, noch in technischer Hinsicht. Ich danke dem Herrn, dass ich nicht auf den Fake mit THE RURAL JURUR hereingefallen bin, denn Kettcar bereitet mir körperliche Qualen. Ich danke dem Sicherheitspersonal, das mir dieses Jahr besonders freundlich vorkam. Ich grüße Veronika von Taxi Lens. Ich danke meinen Mitstreitern, dass ich mich auch jetzt schon auf das nächste Jahr freue. Ich freue mich, dass Tommek ab jetzt fest zu unserer Truppe gehört und ich nehme mir fest vor, im nächsten Jahr endlich mal bei der Verlosung des Strandkonzertes mitzumachen.
Es hat wieder sehr viel Spaß gemacht am Weißenhäuser Strand.
TschÖ
... bis zum nächsten Weekender!
Vielen Dank für die Fotos an Tommek und Michael Nowottny [www.labor-ebertplatz.de]!
ZUM FREITAG
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