Endlich mal wieder ins G9. Das Wetter ist schon herbstlich bescheiden, es regnet, aber es ist relativ mild. Auf dem Weg vom Bahnhof Deutz zum Gebäude 9 müssen wir, mein treuer Konzertbegleiter C. und ich, an der Messe vorbei, wo auch zu später Stunde noch Hochbetrieb herrscht, um die Fress-Messe Anuga, die am Samstag startet, vorzubereiten. Wir überleben einen hektisch rückwärts setzender Kangoo und zahlreiche gut mithörbare Handytelefonate, die man ohne Änderungen direkt in das Programm eines Komikers übernehmen könnte.
Zur großen Freude vom doppelnierigen und etwas dünn aussehenden C. ist die Dönerbude gegenüber dem G9 tatsächlich mal geöffnet. Wahrscheinlich muss die Bude nur wenige Tage in der Woche öffnen, denn es ist rappelvoll und unzählige Fleischgerichte und Bierflaschen wandern über die Theke. Da ich Magen-Darm-Trakt-mäßig leicht angeschlagen bin, übe ich Verzicht, um nicht ein schreckliches Erlebnis auf den nicht sehr einladenden G9-Toiletten beschert zu bekommen. Während ich draußen am Stehtisch warte bis der kachektische C. die erwählten Speisen erhält, geschieht etwas, was mich zutiefst erschüttert. Fast 50 Jahre bin ich nie in die Bedrängnis gekommen, eine Bierflasche mit einem Feuerzeug zu öffnen, aber heute Abend ist es soweit! Eine Dame mit Bierflasche und Döner in den Händen fragt mich, ob ich ihr die Flasche öffnen könnte! Damned! Ich halte ihren Döner während die Lady schwupps ihre Flasche öffnet und mich fühlen lässt, als wäre ich wieder ein Pennäler, der die mit Abstand schlechteste Mathe-Klausur der Klasse soeben mit einer süffisanten Bemerkung des Klassenlehrers entgegen genommen hat. Ich beschließe bei C. in die Lehre zu gehen!
Nachdem C. etwas an Gewicht zugelegt hat und auch die unverwüstliche V. zu uns gestoßen ist, geht es rüber auf die andere Straßenseite zur schönsten Konzert-Location Kölns. Das sich langsam sammelnde Publikum der JON SPENCER BLUES EXPLOSION zeigt reifen und überwiegend männlichen Charakter, will sagen Teenies oder gar weibliche Teenies sind Fehlanzeige.
Ich starte mit einem kühlen Becks, kann aber meinen Magen noch nicht wirklich davon begeistern, das eigentlich herrlich kühle Nass begeistert aufzunehmen. Au Backe, hoffentlich geht der Abend gut! Aber vielleicht hilft ja die zu erwartende Stoßwellentherapie von JSBX?
Um 20:30, wir sind noch im Vorraum, dringen tatsächlich schon die ersten Töne aus dem Konzertraum. Die Band, welche die New Yorker Krachmacher JSBX an diesem Abend supporten darf, kommt aus Portugals wunderschöner Hauptstadt Lissabon und nennt sich THE LEGENDARY TIGERMAN. Wie es sich gehört, haben wir uns über die Vorband schlau gemacht und sind sehr gespannt, in welcher Formation die in ihrem Heimatland zur Zeit sehr erfolgreichen Portugiesen antreten werden.
Auf der Bühne steht nur mit seiner Gitarre ausgerüstet der in Mosambik geborenen Paulo Furtado - kein Verwandtschaftsverhältnis zu Nelly Furtado. Paulo ist bereits seit 2001 The Legendary Tigerman und widmet sich mit unüberseh- und hörbarer Leidenschaft dem Blues - dem "Naked Blues", so auch der Titel seines Debütalbums aus dem Jahre 2002. Der Tigermann lässt es langsam und melancholisch angehen. Die ersten Stücke sind nahe am archaischen Delta-Blues, allerdings nicht mit einer akustischen, sondern einer elektrifizierten Gitarre vorgetragen. Nach zwei oder gar drei Stücken ändert sich die Marschrichtung als ein kleines Kraftpaket am Schlagzeug Platz nimmt, um die Felle zu bearbeiten. Ja, auch bei der Vorband steht der energetische dreckige Rock 'n' Roll-Blues im Fokus, den man anschließend zweifelsohne auch von Jon Spencer und seinen Mannen serviert bekommt.
Das Duo spielt mit Leidenschaft und ausgeprägter Spielfreude und man merkt dem Tigerman an, dass er ein Rock 'n' Roll-Tier ist, das auf die Bühne gehört, weil es sonst in einem jämmerlichen Dasein verenden würde. Höhepunkt des Sets ist der Song "Gone", der live allerdings in einer wesentlich raueren Version gespielt wurde als die im nachfolgenden Clip zu hörende Version. Ich bin jedenfalls beeindruckt und festige den Vorsatz, mich durch die Discographie der Band zu arbeiten. Als einstieg erwerbe ich nach dem Konzert das Doppelalbum "Femina" aus dem Jahr 2009 wo der Tigermann mit den unterschiedlichsten Damen (u. a. Peaches) musiziert.
21:30 Licht aus Spot an für eine Band, die mit 10 Alben in ihrer Anfang der 90er beginnenden Karriere ein einzigartiges musikalisches Gebräu aus Rock ’n’ Roll, Blues, Soul, Rockabilly, Noise, Punkrock und Hip-Hop erschaffen hat. Ladies and Gentleman: THE JON SPENCER BLUES EXPLOSION!
Zur Hölle, es war schon beim Tigerman ziemlich laut, aber JSBX legt noch einen drauf, so dass bei manchen Gitarrenparts von Judah Bauer das Trommelfell einer echten Belastungsprobe ausgesetzt wird. Wie will man ein Konzert dieser Band mit Worten beschreiben? Stichworte, die fallen müssen, sind auf jeden Fall: laut, urban und roh.
In einer Pressemitteilung für das aktuelle Album "Freedom Tower", eine musikalische Hommage an New York heißt es: "New York City is a big place. A loud place. Some of that noise is music. And some of the music is noise." Besser kann man eigentlich nicht umschreiben, womit die Jon Spencer Blues Explosion heute Abend in das eher dörfliche Köln einfallen. Wie ein Flug im Fesselballon durch einen Meteoritenschauer mutet es an, wie die Band durch ihre Songs jagt. Es gibt kaum Pausen, während man noch applaudieren möchte, setzt schon das nächste Stück an und lediglich, wenn sich Jon Spencer liebevoll und bedächtig dem Theremin widmet, ist Zeit zum Luftholen.
The Jon Spencer Blues Explosion - BETTE Vs The NYPD from Michael lavine on Vimeo.
Durch die fließenden Übergänge im Set ist es schwierig einzelne Songs auszumachen, wobei man die immer wieder auftauchenden mit Hiphop-Beats garnierten Songs vom neuen Album schon zweifelsfrei identifiziert. Der auffälligste Song ist aber die Nummer ("Haircut" vom '94er "Orange"-Album? Sachdienliche Hinweise werden gerne entgegengenommen!) bei der Schlagzeuger Russell Simins singt. Singen ist allerdings nicht wirklich die treffende Wortwahl, denn Russel erweist sich als legitimer Nachfolger, falls bei Motörhead mal eine Stelle am Mic frei werden würde ;-)
Nach 55 Minuten verlässt die Band die Bühne. Natürlich kommen die fanatischen Drei aber nach kurzer Zeit zurück auf die Bühne. Ca. 20 Minuten gibt es einen weiteren rastlosen Ritt durch wilde Blues Explosionen, ehe im G9 das Licht wieder angeht und ALLES gut ist. Meine Ohren wurden hervorragend durchgeblasen und meinen Magen-Darm-Trakt kann ich auch ein weiteres Becks zumuten - das nennt man wohl Musiktherapie, oder?
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