Die Tocos sehen ROT! Nein kein blutiges wütendes Album, sondern rot und sanft wie die Liebe.
"Ohne Liebe bin ich nichts. Selbst wenn ich in allen Sprachen der Welt, ja mit Engelszungen reden könnte, aber ich hätte keine Liebe, so wären alle meine Worte hohl und leer, ohne jeden Klang,
wie dröhnendes Eisen oder ein dumpfer Paukenschlag." könnte von Dirk von Lowtzow sein, ist aber aus dem 13ten Kapitel vom "Hohelied der Liebe".
Diesen, auf gefühlt 10 000 Trauungen gehörten Text, hat ein gewisser Paulus von Tarsus geschrieben und nein, auch dieser Herr, obwohl er auch ein "von" im Namen trägt, ist kein Mitglied von TOCOTRONIC.
Aber auch das sogenannte rote Album der Tocos wäre ohne die Liebe nichts. Herman van Veen hatte ja vor Jahren schon einmal "ein zärtliches Gefühl" für einen Song, die Mannen um Herrn von Lowtzow baden ein komplettes Album, 13 Songs lang, im Gefühl der Liebe. Nicht die ewige wahre Liebe, eher die pubertäre Liebe, die stürmische, die wilde, die verlorengegangene. Nicht kitschig (kleine Ausnahme: "Zucker"), aber unendlich romantisch!
Mit diesem von Amors Pfeil durchbohrten Album gelingt Tocotronic nun auch die endgültige Wende, der Ausweg aus Ehehölle mit dem Diskursrock. Gerade noch war ich der Meinung, Tocotronic hätte keine Eier (News 87), da legen, treten sie mir schonungslos in die selbigen und sorgen dafür, dass mich frei nach Adenauer, respektive Beckenbauer für die jüngere Generation, mein Geschwätz von gestern nicht mehr interessiert.
ICH LIEBE ES! Nicht den Fraß der Fastfood-Kette, die sich auf dem absteigenden Ast befindet, sondern dieses herzerwärmende rote Album. Ich hab ein zärtliches Gefühl, wenn sie singen "Man kann den Erwachsenen nicht trauen. Ihr Haar ist schütter, ihre Hosen sind es auch." oder "Und während ich noch spreche hat sich mein Kopf davongemacht" oder noch besser: "Du sagst du lerntest deinen Hass zu tanzen in der Schule der Extravaganzen."
Das inhaltliche Konzept des roten Albums dürfte ausreichend erläutert sein, richtig, es geht um Liebe, aber wie steht es mit der musikalischen Verpackung? Schmusepop oder Kuschelrock?
01. "Prolog": Ein dominanter Beat und im Hintergrund dunkle, disharmonische Gitarrenklänge, die an die ersten beiden Cure-Alben erinnern. Inhaltlich gestehen die Tocos mit diesem Album-Opener ein, dass man doch auf deutsch über Liebe singen kann.
02. "Ich öffne mich": Die afrikanische Kalimba klimpert und ich denke sofort an die Foals, die dieses Instrument auch sehr gerne einsetzen. Voluminöser Song mit kleinen Gitarrenwänden und sehnsuchtsvollem Gesang.
03. "Die Erwachsenen": Welcome back in the 80's. Die Keyboards flirren wie bei A Flock of Seagulls und die Gitarre schmeckt nach The Smiths. Zuckersüßer Pop, der aber bestimmt keine Karies macht, aber fragen Sie lieber ihren Arzt oder Apotheker.
04. "Rebel Boy": Nun aber ganz ganz nah am Smiths-Kosmos! Indie Gitarrenpop, den Morrissey sicher auch sofort mit Lyrics auffüllen könnte. Allerdings sind die Texte von Dirk meilenweit vom Zynismus des Briten entfernt: "Ich will keine Punkte sammeln. Gib mir nur ein neues Leben. Ich will keine Treueherzen. Kannst du mir Liebe geben".
05. "Chaos": Klingt schon wieder nach den Smiths, aber es gesellen sich die ähnlich disharmonischen Gitarren wie bei "Prolog" dazu und ein Hauch von gepfiffenem Spaghetti-Western-Flair.
06. "Solidarität": Reduzierter Singer-Songwriter-Song à la Bob Dylan, aber mit dem Himmel voller Streicher. Ein Schutzschild vor dem täglichen Wahnsinn.
07. "Spiralen": Nahe am vorherigen Song, kein psychedlisches Monster, sondern sich sehr langsam drehende Spiralen. Ein Mantra um DIE Eine mit schlagerhaftem "BaBaBa" - gewagt aber gelungen.
08. "Sie irren": Zurück zu den Schmidts.Wenn man nur auf die Gitarre im Hintergrund hört, sieht man Johnny Marr förmlich vor sich. Feiner Song mit ordentlichem Drive und kleiner Lärmkaskade.
09. "Haft": Hatte ich schon erwähnt, dass ziemlich viele Songs nach The Smiths klingen? Und jetzt singt Herr von Lowtzow auch noch wie Morrissey!
10. "Zucker": "Some Girls are bigger than others" könnte an zu viel Zucker liegen. Aber Süßes macht auf jeden Fall gute Laune! Ich fürchte fast das wird mein Lieblingssong?! Egal, spritz mir halt was Insulin.
11. "Jungfernfahrt": Tocotronic blickt im dramatischen Gitarrenschwall zurück. Mit melancholischer Note, aber ohne Trauer.
12. "Diese Nacht": Mit Dirk und einer Klampfe am nächtlichen Lagerfeuer. Dazu ein schönes Zitat von Dirk aus dem aktuellen Musikexpress: "Alle Folksongs handeln entweder vom Saufen oder von der Liebe. Das sind auch die beiden einzigen Themen, die uns Musikern am Herzen liegen." ;-)
13. "Date mit Dirk": Über 6 Minuten ein Date mit sich selbst inmitten der Natur. Es plätschert der Bach, es zwitschern die Vögel, die Bienen summen und in der Entfernung hört man ein Flugzeug und Bob Dylan schaut auch wieder vorbei.
Epilog: Ich öffne mich ganz von neuem für diese Band, die mich 2012 auf dem Rolling Stones Weekender live ziemlich enttäuschte, die mir aber vor Jahrzehnten (1995) half mit "Digital ist besser" zu reifen, die mir mit dem weißen Album einen All-Time-Favoriten schenkte und die mich dann an den Rand der Kapitulation brachte. Der Rebel Boy ist längst erwachsen oder besser reifer geworden, aber ich bin zurück an Ihrer Seite Herr Lowtzow, denn pure Vernunft darf niemals siegen!
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