Was würde mich erwarten? Würden Distelmeyer, Rattay und Bohlken wieder als Band funktionieren? Kann man im fortgeschrittenen Alter noch mit Wut im Bauch referieren, kann man das mit über 20 Jahre alten Texten? Vom "Apfelmann" zurück zum "Jet Set"? Wird es Zugaben geben, vielleicht sogar vom noch besseren Album "Ich-Maschine"? Aber doch zumindest von "Old Nobody"?
19:30 am Ort des Geschehens. Das Publikum ist, ... nennen wir es mal reifer. Als Dresscode scheint schwarz, oder zumindest dunkel ausgegeben. Männer sind deutlich in der Überzahl.
Gegen 20 Uhr betreten wir die Halle. Das Konzert ist im Gegensatz zu Hamburg, klar Heimspiel, und Berlin, klar Hauptstadt, nicht ausverkauft, aber doch sehr gut gefüllt. Von einer Vorband war im voraus nichts zu ermitteln, also wird es wohl auch keine geben, was die vorrückenden Zeiger mit jeder Minute unterstreichen.
Gegen 20:30 wird das Licht gedämpft. Angespannte Ruhe herrscht im Auditorium bis der Helikopter ertönt, der auch auf der Platte "L’etat et moi" den Anfang bestimmt. Natürlich folgt dann "Draußen auf Kaution". Bei den ersten Songs merkt man der Band an, dass sie nervös ist, zweifelsohne haben sie die Songs drauf und man merkt vor allem Jochen die Spielfreude an, aber man merkt auch, dass sie selbst nicht ganz sicher sind, auf was sie sich mit der Wiederkehr auf der Bühne eingelassen haben.
Dementsprechend gibt es bei den ersten Liedern keine Überraschung, keine neuen Variationen oder Interpretationen, sondern die ersten vier Songs wie von der legendären Platte. Highlight in diesem ersten Block ist "Jet Set", fast auf Knopfdruck sind die Texte in meinem Kopf wieder parat. Ich erinnere mich an das Blumfeld-Konzert vor gefühlten hundert Jahren (um die Jahrhundertwende) im Stollwerk. Jochen war ein eher schüchterner Frontmann, charismatisch, aber alles andere als eine Rampensau. Mir fällt sogar der Name des damaligen Supports ein: Svevo! Was ist eigentlich aus denen geworden. Erinnert sich jemand an den famosen Titel "Sie wollte eigentlich einfach sagen komm wir ficken."? Ich schweife ab, aber so ist das, wenn man sich nach ewigen Zeiten auf einem Klassentreffen wiedersieht.
Jochen scheint das gleiche Gefühl zu haben, denn nach den ersten Songs, Jochen endlich verschwitzt und mit nassem Haar, meint er man könne die Klassenhefte jetzt weglegen und einfach loslassen, das Konzert genießen und Spaß haben. Das klappt bei mir anfangs nur bedingt, zu viel bedeuten mir die einzelnen Lieder, zu viel Kopfkino in meiner Denkfabrik.
Bei einigen alten Songs (z. B. "Aus den Kriegstagebüchern" von "Ich-Maschine") verpacken Blumfeld nun die Texte in ein überarbeitetes musikalisches Gewand. Erstaunlicherweise kann ich damit leben, es beweist, dass sich die Band Gedanken gemacht hat, ob man einen Song wie früher spielen oder aber der Zeit Tribut zollen soll. Lediglich mit der "neuen" Version von "Zeittotschläger" kann ich mich nicht wirklich anfreunden, Jochen singt zu viel, Schlenker in der Stimme, zu viel Theatralik, zu viel Blumfeld der späten Jahre. Hier passt die Anpassung nicht, "Zeittotschläger" gefällt mir geradlinig deutlich besser.
Meine Blumfeld-Lieblinge, natürlich vom Debüt-Album, "Ghettowelt" und "Von der Unmöglichkeit "Nein" zu sagen, ohne sich umzubringen", kommen im ersten Zugabenblock. Very fein, wie es bei uns ganz in Ja,Panik-Manier heißt, wenn man mit etwas rundum zufrieden ist. Anschließend spielt das durch einen Gitarristen verstärkte Trio den Bonus-Track "Einfach so" von Jochens Solo-Platte "Heavy". Passt gut rein und "Wohin mit dem Hass?" wäre auch noch fein gewesen.
Einen Rasierklingenritt betreibt Jochen mit seinen Ansagen an das Publikum. Er bedankt sich 1000 Mal, dass wir gekommen sind. 99 Mal zu viel. Er versprüht so viel gute Laune, dass man Angst hat, es kommt gleich der "Apfelmann" (später rufen einige Aberwitzige sogar nach dem Song - ich hoffe ironischerweise) und er übertreibt es mit der Anbiederung an Kölle ("Ich binne ne Kölsche Jung, watt willste mache?" - ich hoffe auch hier war Ironie im Spiel). Irgendwie habe ich das Gefühl, er tut dies aus Unsicherheit, weil er er ja selber noch nicht weiß, wie dieses Reunion-Konzert vom Publikum aufgenommen wird.
Und ich fürchte nicht zu unrecht, denn im Publikum sind sehr unterschiedliche Verhaltensmuster auszumachen. Es gibt nachdenkliche, es gibt welche, die jede Textzeile mitsingen und es gibt Menschen, die sich benehmen als wären sich auf einer Karnevalparty. Mir steht das Grauen im Gesicht geschrieben als eine Dame vor mir zum, natürlich letzten Song des Abends, "Verstärker" mit in die Luft greifenden Händen tänzelt als wäre es eine Kool & the Gang-Nummer.
Es hat etwas gedauert, ganz wie bei einem Klassentreffen nach 20 Jahren, aber mit zunehmender Konzertdauer war ich wieder ganz bei Blumfeld und jetzt einen Tag später, wo ich diese Zeilen tippe, bin ich froh, dort gewesen zu sein und auf dem Turntable dreht sich gerade knisternd die "Ich-Maschine":
"Gebt mir meine Dosis von dem, was mir zusteht,
den Rest, ich hab schon bezahlt für meine Dosis - gebt sie mir jetzt.
Meine Endomorphinproduktion hat alles verlernt
da hilft auch kein Erinnern mehr.
Solang ich denken kann war alles, was ich bekam, meine Dosis."
[Blumfeld / "Dosis" vom Album "Ich-Maschine" (1992)]
Noch Wissenswertes:
- Jochen raucht weniger! Erst bei den Zugaben hängt ein Glimmstengel zwischen seinen Lippen.
- Blumfeld integriert fremdes Songmaterial (The Beatles, Antônio Carlos Jobim, Prefab Spout und Cole Porter) in einige Stücke - macht er aber nicht zum ersten Mal.